Aufgestanden

geschrieben von Regina Girod

24. Oktober 2018

Vom Wachsen der Demokratiebewegung

Vor dreieinhalb Jahren habe ich das Phänomen zum ersten Mal erlebt: Bärgida, die Berliner Variante von PEGIDA hatte zu ihrer ersten Montagsdemo in Berlin aufgerufen und Tausende kamen. Nicht zu den Rassisten und Hetzern, die waren nur ein paar Hundert. Mehrere Tausend, überwiegend junge Frauen und Männer, manche auch mit Kindern, waren gekommen, um gegen den Aufmarsch zu protestieren, ihn zu blockieren und zu zeigen: »Das ist unsere Stadt, hier habt Ihr nichts zu suchen!« Auf der Suche nach vertrauten Gesichtern drängte ich mich durch diskutierende Gruppen, viel Englisch war da zu hören, Demoselfies wurden verschickt und Ratschläge geteilt, wie die weiträumigen Absperrungen zu umgehen seien. Die Atmosphäre war locker, beinahe fröhlich. Den ganzen Abend lang traf ich nur vereinzelt auf Bekannte, denen ich bei solchen Aktionen sonst immer begegne. Die anderen, die »selbstorganisierten« Demonstranten, waren absolut in der Überzahl.

United-Against-Racism

Ein schönes Erlebnis für alle, die dabei gewesen sind. Hinterher haben wir uns gefragt, wo die vielen Teilnehmer eigentlich hergekommen sind und was wir, also die Anmelder und Träger der Demonstration, diesmal richtiger gemacht hätten, als sonst. Heute aber, nach beeindruckenden Massenkundgebungen in München, großen Aktionen gegen Aufmärsche und Parteitage der AfD und im Vorfeld weiterer angekündigter Großdemonstrationen, z. B. gegen die neuen Polizeigesetze, ist klar: Dies ist nicht allein das Ergebnis beharrlicher Arbeit von Organisationen oder Bündnissen. Die haben vielleicht einen Teil dazu beigetragen, doch hier entsteht etwas Neues: eine Demokratiebewegung, an der sich auch Menschen beteiligen, die sich vorher kaum als »politisch« bezeichnet hätten. Der deutliche Rechtsruck im Land, die zunehmende Spaltung der Gesellschaft und der Unwille des Staates, die Demokratie zu verteidigen, motiviert sie, diesem Trend etwas entgegenzusetzen. Bei Vielen wächst die Erkenntnis, was sie selbst und wir alle zu verlieren haben, wenn diese Entwicklung nicht gestoppt wird.

Angesichts des Erstarkens und der Radikalisierung rechter und extrem rechter Bewegungen, die auch die Medien und das öffentliche Bewusstsein beherrschen, könnte man die These vom gleichzeitigen Wachsen einer Demokratiebewegung für eine Verklärung der Realität halten, doch sie existiert, auch als Ausdruck einer wachsenden Polarisierung der Gesellschaft.

Allerdings unterscheidet sich diese Politisierung neuer Kreise deutlich von früheren. Der Trend, dass Organisationen und Vereine kaum mehr jüngere Mitglieder finden, wurde nicht gebrochen. Doch unterdessen beteiligen sich Gruppen nachwachsender Generationen an ihren Aktionen, die dadurch breiter und größer werden. Dabei bringen die ihre eigenen Interessen und Forderungen auch in anderen Formen ein. Mittels moderner Kommunikationsstrukturen organisieren sie sich selbst. Sie wollen und müssen nicht »angeleitet« werden, im Gegenteil. Wir, die »alten Organisationen«, können und müssen von ihnen lernen. Denn hier findet Selbstermächtigung statt, ein emanzipatorischer Prozess, den schon Marx beschrieben hat, der sich aber aufgrund historisch gewachsener Strukturen und Vorstellungen bis ins 21. Jahrhundert kaum entfalten konnte.

Im Lichte dieser Entwicklung erscheint der Plan, hier und heute eine Bewegung von oben zu gründen, um mit ihr neue parlamentarische Mehrheiten zu erringen, rückwärtsgewandt und weit entfernt von dem, was tatsächlich auf der Tagesordnung steht. Die Reduktion auf Wahlen und Parlamentarismus hat die Idee der Demokratie schwer beschädigt. Ihre Neubelebung kann nur von unten erfolgen. Grundlage dafür müssen Erfahrungen sein, die die Akteure verschiedener Bewegungen, ob globalisierungskritisch, klimaschützend oder antifaschistisch orientiert, bereits gewonnen haben und weiter gewinnen. Nur der längere Weg, diese Kämpfe und Erfahrungen zu organisieren, auszutauschen und zu popularisieren, ist erfolgversprechend. Und auch der bleibt ergebnisoffen. Niemand kann heute sagen, ob es so gelingen wird, den bedrohlichen Szenarien zur Lösung aller Widersprüche mit Gewalt, wirksam entgegenzutreten.

Eines hat sich aber schon gezeigt: Die Organisationsform der neuen Bewegung sind Bündnisse. Bündnisse, in denen unterschiedliche Akteure gleichberechtigt miteinander kooperieren und Erfahrungen sammeln können. Besondere Bedeutung gewinnen dabei der Austausch und die gemeinsame Aktion von Bündnissen verschiedener Couleur. Die Parade »We´ll come united!« am 29. September in Hamburg wird dafür Gelegenheit bieten. Die VVN-BdA ist auf jeden Fall mit dabei.