Der Abgrund von nebenan
29. November 2018
Tobias Ginsburgs etwas anderer Reisebericht über die Reichsbürgerszene
Sie leben mitten unter uns, profitieren von allen Vorzügen eines rechtsstaatlichen und demokratischen Gemeinwesens. Aber sie lehnen nicht nur die bestehende, sondern jede Form der Demokratie und die damit verbundenen Werte ab. Sie bekämpfen nicht nur den Staat – nein, sie leugnen seine Existenz: Deutsche – die sogenannten und selbsternannten »Reichsbürger«. Eine breitere Öffentlichkeit wurde erst auf das Phänomen aufmerksam, als Ende 2016 der Jäger Wolfgang P. im mittelfränkischen Georgensgmünd eine SEK-Einheit, die sein Haus nach Waffen durchsuchen wollte, mit einer Schusswaffe angegriffen, mehrere Polizisten verletzt und einen getötet hat. Zuvor waren sie nur Kennern der rechten Szene ein Begriff: Deutsche Staatsbürger, die, wie der Täter, der seinen Personalausweis zurückgegeben, sich zum »freien Menschen Wolfgang« und sein Haus zum »autonomen Regierungsbezirk« erklärt hatte, keine Institutionen der von ihnen oft als »GmbH« bezeichneten BRD akzeptieren und sich zu »Bürgern« eines untergegangenen Reiches (wie des Deutschen Kaiserreiches oder des »Dritten Reiches«) oder eines neugeschaffenen definieren. Über 15 000 von ihnen soll es in Deutschland geben, Tendenz steigend. Auch, schizophrener Weise, im Dienste staatlicher Institutionen, allen voran der Polizei.
Auch wenn die Bewegung der Reichsbürger keine einheitliche ist, sich unter dieses Schlagwort sowohl biedere doch militante Waffennarren, Kameradschaftsnazis aber auch esoterische Hippie-Siedler subsummieren lassen, muss sie doch irgendetwas verbinden. Dem war der Dramaturg und Regisseur Tobias Ginsburg (Jahrgang 1986) auf der Spur. Getarnt als verschwörungstheoretisch inspirierter Journalist der reichsdeutschen Szene, unter dem Vorwand, diese für seine Fake-website der-widerstand.com wohlwollend zu porträtieren, reist der Autor gut ein Jahr durch Deutschland (»ideologischer Katastrophentourismus«) und besucht allerlei obskure Gruppen und Personen, die sich laut Experten mehr oder weniger den Reichsbürgern zuordnen lassen, auch, wenn ihnen das selbst oft nicht bewusst ist: Die Anhänger des inzwischen internierten »Königs« Peter Fitzek, die sich in einer alten Fabrik nahe Wittenberg ihr »Königreich« in Do-it-yourself-Manier instand(be)setzen; beinharte Leugner der Shoa; ein Bündnis von ›Verschwörern‹ aus friedensbewegten Russlandfreunden, Mitgliedern der Rechtspartei »Deutsche Mitte«, Ex-NPDlern und selbsternannten rechten »Anarchisten«, das die »BriD« (Bundesrepublik in Deutschland) zu Fall zu bringen plant; oder Jürgen Elsässer, den ex-linken Herausgeber des neurechten Querfront-Magazins »Compact« und seine musikalischen Genossen der Band »Die Bandbreite«, die einst noch auf DGB-Veranstaltungen auftraten und gute Freunde des Abgeordneten und Musikproduzenten Dieter Dehm sind, aber kein Problem damit haben, mit waschechten Nazis Bündnisse ›für den Frieden‹ einzugehen. Der Autor bekommt sogar das lukrative Angebot, in eine Initiative einzusteigen, die sich von Putin Kaliningrad (das ehemalige Königsberg) zurückkaufen möchte, um dort ein völkisches Siedlungsprojekt zu eröffnen – und er könnte in diesem neuen »Reich« eine Art »Propagandaminister« werden.
Ginsburg, jüdischer Herkunft, muss sich von seinen Quellen dabei zahlreiche und derart obskure antisemitische Verschwörungstheorien anhören, dass er sarkastisch zu zweifeln beginnt, ob das überhaupt noch Antisemitismus ist, was ihm da zu Ohren kommt, da so vollkommen von jeder materiellen Realität entfernt, so erkennbar obsessive Imagination.
Doch bis hinein in vermeintlich bürgerliche Milieus reichen die Verbindungen und Einflusssphären der verschiedenen Reichsbürgerakteure. Ressentiments und Verschwörungstheorien, denen einst nur marginale Minderheiten anzuhängen schienen, schafften es – auch und gerade durch den Aufstieg der AfD –, Resonanz in den sonst so verhassten und der Manipulation bezichtigten Medien der »Lügenpresse« zu finden, wie die Theorie der von Regierungsseite gesteuerten »Umvolkung« (Austausch der deutschen Bevölkerung durch Muslime) oder die – prominent von Xavier Naidoo kolportierte – Rede von der fortdauernden Besatzung Deutschlands in Ermangelung eines »Friedensvertrages«.
Tobias Ginsburgs Buch ist eine unterhaltsame Mischung aus (leicht verfremdeten, aber den Tatsachen entsprechenden) Sachinformationen verknüpft mit Erzählelementen und reichlich Polemik. Seine kompilierten und konzentrierten, dramatisierten Reiseeindrücke in eine Welt des Irrsinns, und das all die Irren verbindende »wahre Deutschland« (friedliebend, unschuldig und ständig Opfer von Verschwörungen), bieten einen tragikomischen Blick in den Abgrund – den Abgrund von nebenan.