Verständnis und Milde

geschrieben von Otto Pfeiffer

7. April 2019

Der Wilhelmstraßenprozess

Am 11. April 1949 endete mit der Urteilsverkündung durch William C. Christianson – ehemaliger Richter am Obersten Gericht des US-Bundesstaates Minnesota – nach über anderthalbjährigen Verhandlungen und Beratungen der vorletzte von 12 Nachfolgeprozessen gegen führende Vertreter des Nazireichs aus der zweiten Reihe. 323 Zeugen waren angehört worden; 9000 Dokumente lagen als Beweismaterial vor, darunter das in den Akten des Auswärtigen Amtes aufgefundene Protokoll der Wannseekonferenz, auf der der Völkermord an den europäischen Juden konkret geplant wurde.

Auf der Anklagebank saßen vor allem Spitzenfunktionäre aus dem Auswärtigen Amt und weiteren zentralen Dienststellen wie der Reichskanzlei, dem Innenministerium, dem Landwirtschafts-, dem Propaganda-, dem Finanz- sowie dem Rüstungsministerium, dem Reichssicherheitshauptamt, dem SS-Hauptamt, der Reichbeauftragte für die Ostwirtschaft, Spitzen der Reichsbank sowie der Dresdner Bank. Die gemischte Zusammensetzung der 21 Angeklagten ergab sich auch daraus, dass die Reihe der ursprünglich 16 bis 18 geplanten Verfahren zusammengestrichen worden war. Da allein 8 AA-Beamte – darunter 6 im Range von Staatssekretären – im Mittelpunkt standen, hat sich im Deutschen die Bezeichnung Wilhelmstraßenprozess eingebürgert. Offiziell hieß er »The United States of America vs. Ernst von Weizsäcker et al.« Die zweite große Gruppe bestand aus Verantwortlichen für die Ausplünderung der besetzten Gebiete, darunter als einziger aus der Privatwirtschaft der Vorstandsvorsitzende der Dresdner Bank, Karl Rasche.

Der Prozess war bezüglich der angeklagten Diplomaten vor allem von Robert Kempner vorbereitet worden, einem profunden Kenner der deutschen Ministerialbürokratie. Er war seit 1928 im preußischen Innenministerium tätig gewesen und 1933 als Jude und Hitlergegner von den Nazis entlassen und in die Emigration in die USA getrieben wurde: 1932 war er mit Initiativen für ein Verbot der NSDAP und einen Hochverratsprozess gegen Hitler an seiner nazifreundlichen Umgebung gescheitert.

Gegenstand der Anklage waren vor allem:

  • die Planung, Vorbereitung, Einleitung und Führung von Angriffskriegen und Invasionen,
  • Kriegsverbrechen: Ermordung und Misshandlung von Kriegsteilnehmern und von Kriegsgefangenen,
  • Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Gräueltaten und strafbare Handlungen gegen deutsche Staatsangehörige aus politischen, rassischen und religiösen Gründen zwischen 1933 und 1945,
  • Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit: gegen die Zivilbevölkerung begangene Gräueltaten und strafbare Handlungen sowie Raub, Plünderung und Zwangsarbeit,
  • die Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen.

Die Angeklagten bestritten in der Regel, an den faschistischen Verbrechen mitgewirkt, ja überhaupt Kenntnis davon gehabt zu haben, meist bis man ihnen ihre Unterschrift unter einschlägigen Dokumenten vorlegen konnte. So hatte z. B. Staatssekretär Ernst von Weizsäcker einen Brief des AA-«Judenreferenten« Franz Rademacher abgezeichnet, in dem es um die Deportation von mehreren tausend Juden aus Frankreich nach Auschwitz ging, ohne Bedenken des AA anzumerken.

Weizsäckers Nachfolger im AA, Gustav Adolf Steengracht von Moyland, verschleppte nachweislich ein 1943 über die Schweiz vorgetragenes britisches Angebot, 5000 jüdischen Kindern die Ausreise nach Palästina zu ermöglichen, bis seine Durchführung unmöglich geworden war.

Mit dem Beginn des Kalten Krieges war das Interesse der westlichen Seite an einer konsequenten Ahndung der Naziverbrechen bereits während des Prozesses erlahmt. Waren die Urteile angesichts des Gewichts der Vergehen schon ausgesprochen milde, so wurden sie durch »Berichtigungsbeschlüsse« vom 12. Dezember 1949 bzw. von 1951 weiter herabgesetzt – bei den Hauptbelasteten Edmund Veesenmayer (Verantwortlicher für die Judendeportationen aus Ungarn) und Hans Heinrich Lammers (Chef der Reichskanzlei) von 20 auf 10 Jahre, bei Gottlob Berger (Chef des SS-Hauptamtes) von 25 auf 10 Jahre. Der Chef der Präsidialkanzlei unter Ebert, Hindenburg und Hitler, Otto Meissner, wurde freigesprochen; ebenso Hitlers Botschafter in Ungarn, Otto von Erdmannsdorff. Auf Grund späterer Begnadigungen saß praktisch keiner der Verurteilten nach 1951 noch in Haft.

Viele Verurteilte kehrten ins bürgerliche Leben zurück: Steengracht von Moyland als Rechtsanwalt in Kleve, Ernst Wilhelm Bohle (vormals SS-Obergruppenführer und Leiter der Auslandsorganisation der NSDAP)als Kaufmann in Hamburg, Karl Rasche als Berater bei der Dresdener Bank.

Wenngleich die BRD keinen der Verurteilten in den Staatsdienst übernahm, so war es für die Wiedereinstellung im Auswärtigen Amt schon ein Malus, wenn man als Zeuge der Anklage tätig geworden war. Das galt trotz eigener Belastung nicht für Zeugen der Verteidigung wie z. B. im Falle des Werner von Bargen. Der war als Vertreter des AA bei den deutschen Besatzungsbehörden in Belgien für Judendeportationen mitverantwortlich, wurde 1954 im AA wiedereingestellt und schließlich 1960 bis 1963 Botschafter der BRD im Irak.

Bei Wilhelm Stuckart (Staatssekretär im Innenministerium, Teilnehmer an der Wannseekonferenz und mit Globke Kommentator der Rassengesetze) waren »humanitäre Gründe« für eine nur knapp vierjährige Bestrafung geltend gemacht worden, die mit der Untersuchungshaft als verbüßt galt. Nichtsdestoweniger machte er im BHE (»Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten«), dessen Wählerreservoir die revanchistischen Vertriebenenverbände waren, sowie als Geschäftsführer des »Instituts zur Förderung der niedersächsischen Wirtschaft« noch Karriere. Von bundesdeutschen Behörden war er gar 1950 als »Mitläufer« eingestuft worden.