Völkermord in Osteuropa
7. April 2019
Jan Korte zur Beratung des Antrags der Fraktion Die Linke im Bundestag
Wir hatten heute Morgen eine bewegende Gedenkstunde. Klar ist allerdings auch, dass Aufarbeitung, Gedenken an die Opfer und übrigens auch Entschädigungsfragen und die Benennung der Täter stets erkämpft und erstritten werden mussten in der Geschichte der Bundesrepublik. Ich gehe zurück in die 50er-Jahre: Damals galt der Widerstand vom 20. Juli 1944 als Hochverrat. Graf von Stauffenberg war ein Hochverräter in der öffentlichen Wahrnehmung. Und erst Fritz Bauer – der große Fritz Bauer! – hat im sogenannten Remer-Prozess den Nachweis erbracht, dass das keine Hochverräter waren; denn Unrecht kennt keinen Verrat. Diese Einsicht musste bitter erkämpft werden.
Das Gedenken an die Shoa, wie wir es heute begehen in all seiner Vielfältigkeit, musste erkämpft werden. Das stand in der frühen Bundesrepublik überhaupt nicht zur Debatte. Martin Niemöller, Eugen Kogon waren Einzelkämpfer. Das bahnbrechende Werk von Raul Hilberg über die Vernichtung der europäischen Juden, nicht zuletzt der Frankfurter Auschwitz-Prozess initiiert vom damaligen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und nicht zu vergessen Beate und Serge Klarsfeld und schließlich die 68er-Bewegung – all das hat etwas in Bewegung gesetzt..
Erst 2002 wurden in diesem Hause – man kann es sich heute kaum vorstellen – die Wehrmachtdeserteure rehabilitiert und erst 2009 die sogenannten Kriegsverräter, also die kleinen einfachen Wehrmachtssoldaten, die Juden geholfen oder sich kritisch zum Kriegsverlauf geäußert hatten. Das zeigt also: Es musste stets darum gestritten werden.
Und heute – das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, aber auch darum muss gestritten werden, weil wir es sonst offenbar nicht hinbekommen – geht es um eine vergessene, unfassbar große Opfergruppe, nämlich die Millionen ermordeter Opfer der sogenannten Lebensraumideologie der Nazis in Osteuropa, genauer gesagt, die Opfer der rassistischen Mordpolitik der Nazis. Diese Opfer kamen und kommen fast überhaupt nicht vor.
Es geht uns um die Anerkennung, um das würdige Gedenken und um eine Wissensvermittlung. Es begann 1939 mit dem Überfall auf Polen, das 6 Millionen Tote zu beklagen hatte. Das Ziel war – das wurde vorher auch so gesagt – die Ermordung der polnischen Intelligenz und ihrer Führungsschicht und dann – nach einer weiteren Eskalation – der Angriffs- und Vernichtungskrieg Nazi-Deutschlands gegen die Sowjetunion, der nicht nur alle Rechts-, sondern auch alle bis dato bekannten Zivilisationsregeln aufgehoben hat.
Jan Philipp Reemtsma hat damals bei der Eröffnung der ersten so wichtigen Wehrmachtsausstellung Folgendes gesagt – ich zitiere ihn -:
»Der Krieg der deutschen Wehrmacht im Osten ist kein Krieg einer Armee gegen eine andere Armee gewesen, sondern er sollte der Krieg gegen eine Bevölkerung sein, von der ein Teil – die Juden – ausgerottet, der andere dezimiert und versklavt werden sollte. Kriegsverbrechen waren in diesem Krieg nicht Grenzüberschreitungen, die erklärungsbedürftig sind, sondern das Gesicht des Krieges selber.«
Der Terminus Kriegsverbrechen ist aus einer Ordnung entliehen, die von Deutschland außer Kraft gesetzt worden ist. Das ist eine korrekte Beschreibung dessen, was da ablief. Wir wissen – wir haben es heute schon gehört -: Die Sowjetunion hat den größten Blutzoll in diesem Krieg gezahlt: 27 Millionen Tote, davon allein 14 Millionen Zivilisten.
Ich will auf eine weitere Opfergruppe, die dazu gehört, eingehen; auch diese Opfer sind schändlich vernachlässigt worden in der Geschichte der Bundesrepublik. Es geht um das Gedenken und die vernünftige Entschädigung der sowjetischen Kriegsgefangenen.
Von 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten sind, kamen nach den neuesten Forschungen 3,3 Millionen um. Um es mal statistisch zu übersetzen: Die Sterblichkeitsrate bei sowjetischen Kriegsgefangenen – in den Lagern der Wehrmacht übrigens – lag bei 60 Prozent. Demgegenüber lag die Sterblichkeitsrate bei Kriegsgefangenen der westlichen Alliierten bei lediglich 3,5 Prozent. Das heißt, der Mord wurde systematisch organisiert und umgesetzt.
Wenn man diese Zahlen und die Forschungsergebnisse kennt, fragt man sich heute: Warum müssen wir das hier eigentlich diskutieren? Warum gibt es vonseiten der Bundesregierung keinen Gesetzentwurf, der einen Gedenkort und ein Mahnmal auf den Weg bringt? Das hat natürlich geschichtspolitische Gründe.
Das hat etwas mit der Zeit des Kalten Krieges zu tun. Das hat mit einem in der Geschichte der Bundesregierung verankerten, fast staatsreligiösen Antikommunismus der 50er- und 60er-Jahre zu tun. Daran muss man erinnern. Man muss sich einmal zurückerinnern und sehen, wie viele Landser-Hefte und solch ein Dreck überall gelesen wurden. Damals galt der Krieg gegen die Sowjetunion als de facto legitim, als eine irgendwie ehrenvolle Sache. Das war damals die Situation. Und es hatte etwas zu tun mit der massenhaften Rückkehr der alten Nazi-Eliten in Politik, Wirtschaft und Militär. Damit hatte es etwas zu tun. Deswegen war damals gar nicht daran zu denken, dieser großen Opfergruppe zu gedenken…
Ich will eines sagen: Wir sind natürlich bereit, die Parteipolitik bei dieser Frage vielleicht außen vor zu lassen, um hier über alle Fraktionsgrenzen hinweg insgesamt zu einer Lösung zu kommen, damit dieser vergessenen Opfergruppe endlich ein würdiges Gedenken organisiert wird. Und ich habe eine Bitte: Bei all diesen Debatten darüber, die wir in der Außenpolitik oder sonst wo führen, sollten wir die Frage von Erinnerungspolitik, von Erinnerungskultur nicht mit aktuellen außenpolitischen Auseinandersetzungen verquicken.