Das Europa, das wir wollen

geschrieben von Carla Nespolo

20. Mai 2019

Von der Neuwahl des Europäischen Parlaments hängt das Schicksal der Völker des Kontinents ab. Wir alle wissen, dass seit einiger Zeit Neofaschismus, Neonazismus, Nationalismus und Rassismus dunkle Schatten werfen. Je erfolgreicher die Protagonisten dieser Ideologien sein werden, umso mehr sind Freiheit, Recht und Frieden gefährdet. Das ist keine dahingesprochene Parole: Es ist die schreckliche Lektion der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts!

Die Europäische Union selbst, wie ihre Gründer sie sich vorgestellt haben, würde verschwinden und durch ein anderes Europa-Konzept ersetzt: Ein Europa von Staaten mit andauernden Konflikten um Vorherrschaft, ein Europa, das seine eigene Auflösung hervorbrächte. In Hinblick auf die Wirtschaft würde die Rückkehr zu den Nationalstaaten ihre sofortige Marginalisierung bedeuten, mit schwersten Folgen für das Leben jedes Volkes.

Carla Nespolo ist Präsidentin unserer italienischen Partnerorganisation ANPI (Associazione Nazionale Partigiani d′Italia), die 1944 in Rom von antifaschistischen Widerstandskämpfern gegründet wurde

Carla Nespolo ist Präsidentin unserer italienischen Partnerorganisation ANPI (Associazione Nazionale Partigiani d′Italia), die 1944 in Rom von antifaschistischen Widerstandskämpfern gegründet wurde

Und das ist noch nicht alles: Nationalismus und Rassismus schließen Menschen unerbittlich von Rechten aus; das betrifft nicht nur Minderheiten in Bezug auf Sprache, Ethnie, sexuelle Orientierung, Religion oder politische Meinungen, sondern auch und oft als erstes die Frauen. Doch Frauen und Minderheiten anzugreifen, bedeutet zugleich einen Angriff auf alle Menschen. Zur Wahl zu gehen, ist daher für antifaschistische, antirassistische und offen proeuropäische Kräfte ein absolutes Muss, um die Rechte und Lebensbedingungen hunderter Millionen von Menschen zu verteidigen.

Seit mehr als einem Jahr spielen in der italienischen Regierung Kräfte, die diskriminierenden und nationalistischen Prinzipien folgen, eine wichtige Rolle. Ihre Politik hat eine gefährliche Schieflage, die noch unangenehme Überraschungen bereithalten kann. Die irrationale und unmenschliche Aussperrung von Migranten, die Angriffe auf Roma und Sinti, auf Homosexuelle, die Gesetzesvorlagen gegen die Rechte der Frau, die Drohungen gegen jeden, der einen kritischen Standpunkt vertritt, und – ganz allgemein – der Zynismus gegenüber dem Leben und der Würde so vieler Menschen sind nur einige Anzeichen für den bereits eingeschlagenen Weg. Dennoch möchte ich klar sagen: Auch in der Regierung und unter den politischen Kräften, die ihr angehören – und sogar innerhalb desselben politischen Lagers – gibt es unterschiedliche Positionen. Und es liegt an uns, hier zu differenzieren und nicht alles in einen Topf zu werfen. Aber die generelle Linie der Regierungspolitik geht in die falsche Richtung und wird bereits von einer breiten Front sozialer, kultureller und politischer Bewegungen in Frage gestellt. ANPI ist nicht nur ein Teil dieser Front, in vielerlei Hinsicht ist sie auch Initiatorin und Organisatorin.

Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die Wirtschaftspolitik der EU zu den Hauptursachen für den Aufstieg der extrem rechten Bewegungen gehört, zumindest seit der großen Krise, d.h. seit Ende des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts. Die Austeritätspolitik ist verantwortlich für die Verarmung der Massen, sie hat Misstrauen und Antipathie gesät. Das Versagen Europas bei der Steuerung der Migration hat Angst und Ressentiments verstärkt. Das von einem Teil der EU-Führungskräfte durchgesetzte europäische Wirtschafts- und Sozialmodell ist offenkundig gescheitert. Wir brauchen ein neues Modell, das auf Arbeit, Solidarität, Nachhaltigkeit, Sicherheit, Frieden und der Autonomie eines Kontinents basiert, der, wirklich vereint, der Herausforderung der Globalisierung begegnen kann.

Die Grenzlinie zwischen den Staaten sollte als Verbindungslinie und nicht als eine Barriere betrachtet werden. Wir wollen ein Europa der Menschen in einer Welt der Menschen. Auf diese Weise geben wir den Worten »Demokratie« und »Menschenwürde« ihren Wert zurück. Nur ein soziales, geeintes und modern antifaschistisches Europa kann die Schatten der Vergangenheit aus Gewalt, Chauvinismus und Expansionismus besiegen.

Es gibt, so hat hat der große italienische Schriftsteller Umberto Eco geschrieben, einen »ewigen Faschismus«. Und seht: heute haben wir ihn direkt vor uns. Noch einmal: Wir können gewinnen, wenn wir gemeinsam in ganz Europa drei Fahnen hissen: die der Einheit, die der Freiheit, die der Gleichheit.