Das Recht zum Widerstand?

geschrieben von Erika Klantz

20. Mai 2019

Eine Analyse der Artikel 20 und 79 des Grundgesetzes

Am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (GG) in Kraft. Nicht wenige ihrer Bestimmungen resultierten aus dem Scheitern der Weimarer Demokratie und dem Rechtsmissbrauch im Dritten Reich. Dazu gehören auch die Artikel 20 und 79 GG. Die ersten drei Absätze von Artikel 20 regeln das Demokratie-, das Sozialstaats-, das Rechtsstaatsprinzip und die Volkssouveränität. Artikel 79 regelt die Voraussetzungen für Grundgesetzänderung.

Die beiden Artikel enthalten Absätze, die eine antifaschistische Intention erkennen lassen und nur aus dem Versagen der Weimarer Demokratie und der Willfährigkeit fast desselben Staatsapparates bei der Umsetzung der antidemokratischen, menschenverachtenden und kriegerischen Ideologie des Faschismus, zu erklären sind.

Was ist antifaschistisch an Artikel 79 Absatz 3?

Der Absatz 3 von Artikel 79 schützt die Gliederung des Bundes in Länder, ihre grundsätzliche Mitwirkung an der Gesetzgebung und die in Artikel 1 (Würde des Menschen und die Bindung staatlicher Gewalt an sie) und Artikel 20 GG niedergelegten Grundsätze vor Änderungen durch den Gesetzgeber. Mit einer so genannten Zweidrittelmehrheit könnte der Gesetzgeber die geschützten Regelungen zwar neu formulieren, aber an ihrem grundsätzlichen Inhalt nichts verändern. Daher wurde an den Artikeln 1 und 20 Absätze 1 bis 3 GG nie auch nur ein Wort geändert.

Gründe für diese ungewöhnliche Regelung sind die Vorgeschichte und Geschichte des Dritten Reiches. Insbesondere Reichspräsident Hindenburg hat immer wieder mit Hilfe von Artikel 48 der Weimarer Verfassung in die Rechte der Länder (z. B. Auflösung der preußischen Regierung) eingegriffen, die Grundrechte und das Rechtsstaatsprinzip (siehe Reichstagsbrandverordnung) faktisch beseitigt, die Länder später einfach aufgelöst. Alles im Rahmen der damals akzeptierten Legalität. So ist dies heute nicht mehr möglich.

Warum ist das Widerstandsrecht antifaschistisch?

Zu einer Änderung des Artikels 20 GG kam es aber doch. 1968 wurde dem Artikel 20 im Zusammenhang mit der Einfügung der Artikel 115 a bis 115 l GG – der Notstandsgesetzgebung – ein Absatz 4 eingefügt. Dieser regelt, dass alle Deutschen soweit andere Abhilfe nicht möglich ist, das Recht zum Widerstand gegen denjenigen haben, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen. Trotz des fast zwanzigjährigen Abstands zur Verabschiedung des Grundgesetzes ist auch dieser Absatz eine Reaktion auf die Machtübertragung an die Nazis. Sie hat ihre Vorbilder in den hessischen und bremischen Landesverfassungen der ersten Nachkriegsjahre, die sogar eine Pflicht zum Widerstand vorsehen.

Wann ist Widerstand erlaubt?

Der praktische Inhalt dieser Vorschrift ist zutiefst umstritten. Zum Teil wird sie für unsinnig gehalten, denn eine erfolgreiche Diktatur wird sich nicht daran halten und die erfolgreichen Demokraten werden sowieso keine Handlung, die zur Demokratieerhaltung geführt hat, bestrafen. Andere wollen nur solche Handlungen als Widerstand gerechtfertigt wissen, die erfolgversprechend eine Diktatureinrichtung verhindern könnten. Wieder andere sind der Meinung, dass Widerstand gegen jede, ihrer Ansicht nach gegen die Rechtsprinzipien verstoßenden Handlungen, erlaubt sind.

Die Wahrheit liegt wohl in einer relativ wortgetreuen Auslegung der Vorschrift. Demnach wären Widerstandshandlungen gegen jeden Versuch erlaubt, die in den Absätzen 1 bis 3 niedergelegten Grundsätze abzuschaffen. Ob dieser Versuch durch einen Putsch gegen die Regierung, durch Einrichtung einer Diktatur durch die verfassungsmäßige Regierung oder durch Maßnahmen der Regierung, die nur zur Aushöhlung dieser Grundsätze führen, geschieht ist wohl unerheblich. Inwieweit Widerstand erfolgversprechend war, lässt sich im Nachhinein wohl kaum beurteilen. Dass die Handlungen nicht jedes Maß verlieren dürfen ist wohl selbstverständlich. Widerstand ist auf jeden Fall erst dann erlaubt, wenn erfolgreiche Gegenhandlungen staatlicher (Gerichte, Länderregierungen, Armee) oder überstaatlicher Stellen (EU, internationale Gerichte) entweder durch deren Ausschaltung oder deren Beteiligung an den Maßnahmen, ausgeschlossen sind.

In Bezug auf das Verhältnis von Artikel 79 Absatz 3 und Artikel 20 Absatz 4 GG wurde viel darüber diskutiert, ob das Widerstandsrecht durch den Artikel 79 Absatz 3 geschützt sei. Nicht diskutiert wurde, ob ein offensichtlicher Verstoß gegen Artikel 79 Absatz 3 das Widerstandsrecht auslösen könne. Ein wichtiger Indikator ist es auf jeden Fall.

Was bedeutet das antifaschistische Erbe heute?

Festzustellen ist, dass die Artikel 20 Absatz 4 und 79 Absatz 3 GG zwar als »Erbe« des antifaschistischen Kampfes weiterhin existieren, aber in der politischen und juristischen Debatte in unserer bürgerlichen Gesellschaft kaum eine Rolle spielen oder sogar diskreditiert werden. Aber dies trifft auf viele Bestimmungen des Grundgesetzes zu, die als Antwort auf das widerstandslose Hinübergleiten des Weimarer Staatsapparates in den NS-Staat gedacht waren.