Dr. Sauerbruch ist auferstanden

geschrieben von Thomas Willms

20. Mai 2019

Die Serie »Charité« der ARD

Krankenhäuser sind als Orte von Leben, Tod, Heldenmut, Niedertracht und desaströsen Liebesgeschichten seit jeher beliebter Spielort von Film und Fernsehen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass nun auch die Berliner Charité zum Gegenstand einer Fernsehserie geworden ist.

Ging es in der ersten Staffel von 2017 filmisch ganz achtbar um die Zeit der großen medizinischen Fortschritte um 1900, um Rudolf Virchow, Robert Koch, Paul Ehrlich und andere, setzt die zweite Staffel 1943 ein. Hier gibt es nur noch einen Heroen: den Chirurgen Ferdinand Sauerbruch. Die 1951 verstorbene Medizin-Legende wäre in der jungen Generation beinahe doch dem Vergessen anheimgefallen. Nun ist er wieder da, der Halbgott in Weiß, der Lenin und Hindenburg behandelt hat, jeden entweder duzte oder anschrie, der unumschränkte Herrscher im OP. Es ist schon beängstigend zu sehen, wie Ulrich Noethen das Genie nicht interpretiert, sondern regelrecht auferstehen lässt. Wie im realen Leben verblassen nahezu alle anderen Charaktere neben ihm. Schuld daran sind nicht die Schauspieler, auch nicht die ordentlichen Filmhandwerker, sondern ein Drehbuch, das einen tiefen und dabei erschütternden Einblick in das gibt, was heute wirklich über die NS-Zeit gewusst und gedacht wird.

In einem Wort zusammengefasst: Man sieht Menschen des Jahres 2018, die so tun als würden sie 1943 leben. Sie laufen in den faschistischen Uniformen und zeitgenössischen Trachten durch das Zentrum des Nazi-Regimes und denken, reden und handeln als hätten sie die Trends und Themen der Gegenwart im Hirn. Das macht es den Zuschauern einfach, ist aber grundfalsch. »Charité« scheitert in allen wesentlichen Handlungssträngen und Themen als da wären: Desertion und Selbstverstümmelung von Wehrmachtsangehörigen, Krankenmord, Missbrauch von Kindern für medizinische Experimente, Euthanasie, Homosexualität, Zwangsarbeit, Terror und Gewalt.

In »Charité« hat vor allem niemand richtig Angst, nicht vor den Bomben, die Nacht für Nacht fallen, nicht vor den Russen, die immer näher kommen, aber auch nicht vor der Gestapo und ihren Denunzianten, der SS und anderen immer mörderischerer wirkenden Behörden, Truppenteilen und Anhängern des Regimes. Jedermann scheint frei zu sein, sich irgendwie widerständig äußern und handeln zu können. »Die Nazis« sind nicht die Pfleger und Krankenschwestern, Ärzte und Funktionäre, sondern genau definierte und bezeichnete »andere«, die mirakulös zwar herrschen, aber wie die Deppen danebenstehen, wenn mal wieder jemand auf den Führer schimpft. Nazis sind auch nicht die Wehrmachtsangehörigen, in deren Schoße – »unter Kameraden« – ein Patient mit einer scheinbaren Selbstverstümmelung anscheinend problemlos davongekommen wäre. Nazi ist auch nicht Prof. Sauerbruch, zu dessen widersprüchlicher Biographie eben auch gehört, als oberster Gutachter des Reiches sämtliche verbrecherischen Medizinexperimente durchgewunken zu haben. Abseits aller Wahrscheinlichkeit darf ein 20jähriger Mann 1944 zu einem anderen einfach »Ich liebe dich!« sagen als wäre er nicht in einer Gesellschaft groß geworden in der Homosexualität als psychische Krankheit und Verbrechen am Volkskörper mit KZ und Tod geahndet wurde. Nun, mag man einwenden, ist historische Unkenntnis auch bei Drehbuchschreibern kein Verbrechen. Wäre alles nur fröhlicher Mittelalter-Unsinn, wäre alle Kritik auch geschenkt.

Aber auffallend ist, dass der Unsinn eine Richtung kennt. Es wird an allen Ecken bagatellisiert und entlastet bis man sich fragt, warum überhaupt wer damals mitgemacht hat. Endgültig zum Durchbruch kommt das deutsche Unterbewusstsein im Schluss-teil, bei dem man Zeuge wahrlich gespenstischer Szenen wird, die den Schauspielern hoffentlich ordentlich peinlich waren. Ein in der Stadt untergetauchter Jude gerät nämlich an einen der ärztlichen Sympathie-Träger der Charité (vorher aufgefallen dadurch, dass er ohne mit der Wimper zu zucken medizinische Versuche an behinderten Kindern durchgeführt hat und seine eigene behinderte Tochter in ein Heim abzugeben trachtete, wohl wissend was das bedeutet – aber wer will hier schon kleinlich sein bei der Charakterzeichnung). Der Jude überreicht dem deutschen Arzt voller Dankbarkeit seinen Judenstern, mit dem dieser sich gegenüber den einrückenden Sowjetsoldaten als guter Mensch legitimieren kann. Das hat schon etwas untergründig Antisemitisches, denn mal wieder hat es doch einen großen Vorteil, wenn man Jude ist, nicht wahr? Und ist es nicht rührend, dass Juden den Deutschen am Schluss immer verzeihen? – zumindest in deutschen Filmen der Gegenwart.