Vielfältig und doch vereint

geschrieben von Friedbert Mühldorfer

14. Juli 2019

Nachkommen melden sich zu Wort

»Keiner erklärte uns damals … das Wort Auschwitz. Das Schweigen über die Stationen des aufgeschobenen Sterbens und Überlebens meines Großvaters … war dennoch unüberhörbar.« Mit diesen Worten erinnert sich der 1976 in Polen geborene Kamil Majchrzak an seine Kindheit in der Familie. Erst als Erwachsener, nach der Geburt seiner Tochter, beschloss Kamil, der Einsamkeit und Isolation seines längst verstorbenen Großvaters auf den Grund zu gehen und Spurensuche zu betreiben.

Kamil Majchrzak ist einer von 22 Nachkommen von Verfolgten des Naziregimes, von Exil und Widerstand, die in einer von der Berliner VVN-BdA herausgegebenen Broschüre über den eigenen Umgang mit diesen besonderen Familiengeschichten reden.

Dass Leid und Erinnerung an die Naziverbrechen nicht auf die Überlebenden begrenzt blieb, sondern in verschiedenster Weise auch Kinder und Enkel prägen konnte, ist seit den 1990er Jahren zunehmend Gegenstand von Fachliteratur geworden. Eine neue Entwicklung gibt es seit rund zehn Jahren: Nachkommen treffen und vernetzen sich, wollen eigenständig wahrgenommen werden, tauschen – oft leidvolle – Erfahrungen aus und diskutieren ihr eigenes Engagement, unterstützt von Gedenkstätten oder dem Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte e.V.

Verschiedene Treffen von Nachkommen aus Berlin bilden auch die Grundlage für die vorliegende Broschüre, wie Initiator Hans Coppi und Mitherausgeber Mathias Wörsching einleitend beschreiben.

Es ist spannend zu lesen, wie unterschiedlich die fünfzehn Frauen und sieben Männer sich an ihre verfolgten Eltern oder Großeltern erinnern, was sie wann erfahren haben von deren Verfolgung und Widerstand – und was dann dieses Wissen und Gefühle und Erinnerungen bewirkt haben für das eigene Handeln.

Beeindruckend ist das breite Spektrum der »Vorfahren«, die als Kommunisten und Sozialisten, als Juden, als »Arbeitsscheue«, Sinti und Roma, als Angehörige des 20. Juli, des Kreisauer Kreises, als Deserteure oder als christliche Gewerkschafter verfolgt wurden bzw. Widerstand gegen die Nazis leisteten – auch im Exil.

Im Vordergrund der knappen, bebilderten Beiträge aber stehen nicht die Biografien der Verfolgten, sondern die Auswirkungen auf das jeweils eigene Leben. Waren manche Nachkommen schon als Kinder in die Nachkriegsaktivitäten der politisch aktiven Eltern eingebunden, so mussten andere angesichts von »Übervätern« erst mühsam ihren eigenen Weg suchen. Die 1948 als Tochter einer Jüdin und eines Kommunisten geborene Eva Nickel musste klarkommen mit dem »Vermächtnis« ihres Vaters, der ihr noch die Vornamen ihrer beiden von den Nazis ermordeten Schwestern mitgab. Wieder andere Kinder oder Enkel erfuhren kaum etwas zu Hause und begannen erst später nach wohl notwendiger Distanz mit mühsamer Spurensuche.

Es ist die inhaltliche und auch sprachliche Unterschiedlichkeit der Beiträge, die einem die Personen nahebringen und verdeutlichen, wie vielfältig sie heute in den verschiedensten Initiativen und Bildungseinrichtungen wirken, um den »Vermächtnissen« ihrer verfolgten Familienangehörigen nachzukommen.

Zu diesen unausgesprochenen »Aufträgen« gehört für die Nachkommen auch die öffentliche gesellschaftliche Würdigung der Verfolgten und der Frauen und Männer des Widerstandes, deren Wirken in der Bundesrepublik oft verdrängt, verfälscht und die im Gefolge antikommunistischer Hetze oftmals sogar neuerlicher Verfolgung ausgesetzt waren. Es ist wichtig für die Vollständigkeit des Bildes, dass auch die Beiträge der inzwischen verstorbenen Ursula Schwartz über die Verfolgung ihrer kommunistischen Eltern durch Stalin im sowjetischen Exil sowie von Karoline Georg über ihren Großvater Karl Raddatz aufgenommen wurden; Raddatz, Sachsenhausen-Häftling, war der erste Generalsekretär der VVN, wurde aber in der DDR später neuerlich verfolgt und inhaftiert.

Beeindruckend ist in allen Beiträgen die Absicht der Nachkommen, sich wirklich selbst mit der eigenen Geschichte »zu Wort zu melden« wie es im Titel der Broschüre heißt: Angesichts von immer wieder aufkommenden Forderungen nach einem Schlussstrich unter die Nazivergangenheit wollen gerade sie als Angehörige die Erinnerung an Verfolgung und Widerstand lebendig halten; dies nicht als Selbstzweck, sondern um zu vermitteln, warum Solidarität und gleiche Rechte für alle gerade heute so wichtig sind angesichts von neu auflebendem Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus. So unterschiedlich die Familiengeschichten auch sind, in diesem Punkt finden die Nachkommen ihren gemeinsamen »Auftrag«.

Nachkommen der Verfolgten des Naziregimes, von Exil und Widerstand melden sich zu Wort, hg. v. VVN-BdA Berlin, Hans Coppi u.a, Berlin 2019