Gewachsene Grauzone

geschrieben von Axel Holz

29. Juli 2019

Neue Mentalitäten in der Mitte der Gesellschaft gefährden die Demokratie

Seit 2002 untersucht eine Studie der Fridrich-Ebert-Stiftung alle zwei Jahre die politischen und sozialen Einstellungen und prüft, wie fragil und gespalten die gesellschaftliche Mitte ist, die bisher stets als Garant für Stabilität und feste Normen galt. Im Mittelpunkt steht dabei, wie weit rechtsextreme, rechtspopulistische und menschenfeindliche Einstellungen in die Mitte der Gesellschaft eingedrungen sind. Haben Polarisierungen und Konflikte die Norm von der Gleichwertigkeit aller Gruppen verschoben? Ist die demokratische Mitte geschrumpft oder verloren?

Antworten gibt die neue Studie über rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/2019 mit dem Titel »Verlorener Mitte – Feindselige Zustände«. Sie zeigt zunächst, dass rechtsextreme Einstellungen in der Gesamtbevölkerung nicht zugenommen haben, allerdings in einigen Subgruppen. Auffallend ist der Anstieg rechtsextremer Einstellungen bei den Jüngeren, bei Einkommensstärkeren und bei Gewerkschaftsmitgliedern mit Blick auf spezifische Dimensionen wie Antisemitismus und Chauvinismus. Auch hat der Antisemitismus bei Frauen zugenommen, so dass sich die bisher wahrgenommenen Einstellungsunterschiede nach Soziodemografie nivellieren.

Die Entwicklung rechtsextremer Einstellungen wird in der Studie anhand von sechs Kriterien mit den immer gleichen Fragen gemessen. Auf den Gebieten Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, Chauvinismus, Verharmlosung des NS-Regimes, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus uns Sozialdarwinismus haben sich die Werte von 2002 bis 2018 deutlich verringert – mit einem leichten Anstieg von 2016 bis 2018. So ist über 16 Jahre tendenziell der Hang zum Chauvinismus von 18,3 auf 12,5 Prozent um ein Drittel gesunken. Die Fremdenfeindlichkeit hat sich im gleichen Zeitraum von 26,9 auf 8,9 Prozent um fast zwei Drittel verringert. Insbesondere beim Antisemitismus findet sich bei den Befragten nicht selten eine Zurückweisung oder Ablehnung, während gleichzeitig nationalchauvinistischen und fremdenfeindlichen Positionen umso stärker zugestimmt wird.

Andreas Zick, Beate Küpper, Wilhelm Berghan »Verlorener Mitte – Feindselige Zustände«, Verlag J.H.W. Dietz, Bonn, 332 S., 14,90 Euro

Andreas Zick, Beate Küpper, Wilhelm Berghan »Verlorener Mitte – Feindselige Zustände«, Verlag J.H.W. Dietz, Bonn, 332 S., 14,90 Euro

Das klingt alles sehr gut und scheint im Widerspruch zum Titel der aktuellen Studie zu stehen. Woran wird dann die »verlorene Mitte« festgemacht, die von Experten ohnehin ungern als extrem eingeschätzt wird, weil sich damit der Begriff Extremismus selbst überflüssig mache? Darauf gibt ein Aufsatz von Alexander Häusler und Beate Küpper in der Studie Auskunft. Rechtsextreme Einstellungen finden derzeit nicht mehr so viel Zustimmung wie andere antidemokratische Einstellungen, darunter Anti-Establishment-Einstellungen, Unterstellung eines Meinungsdiktats, Islamverschwörung, nationale Rückbesinnung, Ethnopluralismus und Antifeminismus. In der Bundesrepublik wurden rechtsextreme Erscheinungsformen lange Zeit als gesellschaftliche Randphänomene wahrgenommen. Sie fokussierten sich auf Wahlerfolge der traditionellen Rechtsaußenparteien, auf Aufmärsche neonazistischer Kameradschaftsnetzwerke und auf neonazistisch motivierte Gewalttaten. Mittlerweile hat sich die Grauzone der neuen Rechten im Spannungsfeld zwischen Rechtsextremismus und Konservatismus zu einem realpolitischen Prozess ausgewachsen, der die Mitte der Gesellschaft zunehmend erfasst. Rechtsextreme Kleinparteien verlieren an Bedeutung oder verschwinden zu Gunsten der rechtspopulistischen AfD. Milieuübergreifende Straßenmobilisierung durch »Pegida« oder die »Identitären« verändern das rechte Bewegungsfeld, das zunehmend von einer sozialen und organisatorischen Durchmischung von vormals getrennt agierenden Protestmilieus geprägt ist. Rechtspopulistische Wahlerfolge und rechte Straßenmobilisierung münden zunehmend in autoritär strukturierte und teilweise gewaltaffine Formern rechter Selbstermächtigung.

Unter neurechtem Einfluss erodiert die Abgrenzung zwischen Konservatismus und Rechtextremismus. Mit sozialpopulistischer Demagogie gelang der AfD ein Einbruch in das Lager ehemals linker Wähler und die Mobilisierung von Nichtwählern. Anders als bei den Neonazis wird hier die demokratische Ordnung formell nicht in Frage gestellt, aber durch einen Rückgriff auf den ultranationalistischen Mythos eine Radikalisierung nach rechts und damit eine Revision der Verfassungswirklichkeit bzw. einzelner Normen angestrebt. Dabei gehen die Rechtpopulisten von einer ethnisch bedingten Ungleichheit der Menschen aus, verlangen nach ethnischer Homogenität der Völker, lehnen das Gleichheitsgebot der Menschenrechts-Deklaration ab, betonen den Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum, unterordnen den Bürger unter die Staatsräson, lehnen den Wertepluralismus liberaler Demokratie ab und wollen Demokratisierung rückgängig machen. Über völkisch-autoritären Populismus wird der alte harte Rechtsextremismus in modernem, soften Gewand verpackt.

Der AfD gelingt es, verschiedene Phänomene des Rechtsaußenspektrums zu repräsentieren und in die Parlamente zu tragen. Wer meint, mit diesen Kräften einen Dialog führen zu wollen, sollte nicht glauben, sie mit freundlichen Argumenten auf den Pfad der Demokratie führen zu können, kommentieren die Autoren der Studie. Sie erinnern daran, dass die Nationalsozialisten nie die absolute Mehrheit erlangen konnten und auch niemals formal die Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt haben. Dennoch konnten sie ihr autoritäres Herrschaftssystem etablieren, bei dem viele mitgemacht und mitgejubelt haben.