Kein Gebirgsjägerlatein
16. September 2019
»Heimatkrimi« befasst sich mit Verbrechen der Wehrmacht
Auf dem Rücktitel des Romans »Hinterwald« von Lissbeth Lutter stehen nach einer kurzen Inhaltsangabe folgende Zeilen: »Der Roman ist spannend und gut geschrieben, das Lokalkolorit stimmig und den Titel ‚Hinterwald‘ finden wir grandios. Andererseits polarisiert der Text stark und wir sehen es vertrieblich als sehr problematisch an, in Bayern mit einem Krimi herauszukommen, in dem die örtliche Bevölkerung derart schlecht wegkommt.« Und darunter als Quellenangabe: »Aus dem Ablehnungsschreiben eines Verlags«. Fact oder Fiction?
Gar nicht so einfach einzuordnen bei diesem »Heimatkrimi«, der uns in oberbayerische Gebirgslandschaften führt. »Diese Geschichte ist ausgedacht. Sie ist darum nicht weniger wahr.« Mit diesen Sätzen, frei nach Marc-Uwe Kling, dem Verfasser der »Känguru-Chroniken«, geleitet die »Hinterwald«-Autorin die Leserinnen und Leser in ihr Werk. Eines jedenfalls ist unübersehbar: Der Velag De Noantri (Bremen und Wuppertal) in dem das Buch vor kurzem erschienen ist, liegt nicht gerade südlich der Donau und ist bisher mit Kriminalroman-Veröffentlichungen, »Heimatkrimis« gar, noch nicht aufgefallen.
Das auf dem Cover zitierte »Ablehnungsschreiben«, sei es real oder satirisch, passt jedenfalls sehr gut zu den ausführlich im Buch aufgezeigten geografischen, historischen und politischen Hintergründen. Die Haupthandlung, die sich weitgehend im titelgebenden Touristenort Hinterwald abspielt, findet in den Jahren 2002 bis 2004 statt, Rückblenden führen uns zu verschiedenen Orten deutscher Kriegsverbrechen im Griechenland der 40er-Jahre.
Das fiktive Roman-Hinterwald ist nicht nur beliebtes Touristenziel in Oberbayern, es ist auch Standort einer Gebirgstruppe der Bundeswehr, die zur Prosperität der Gemeinde beizutragen weiß und das dortige Ambiente unter der Regie eines überregionalen Veteranenkreises der einstigen Wehrmachts-Gebirgsjäger, »Kameradenkreis« genannt, für eine makabre Traditionspflege zu nutzen weiß. Bis dann plötzlich, am Anfang des 21. Jahrhunderts, von außen Spielverderber auftauchen, die sich solcher Traditionspflege mit Aktionen und öffentlichen Enthüllungen über die von den Gebirgsjägern einst verübten Wehrmachtsverbrechen offensiv entgegenstellen.
Bei den meisten »antifa«-Leserinnen dürfte inzwischen, den realen Ort betreffend, »das Zehnerl g‘fallen sein« (um auch kurz einmal einen bayerischen Begriff zu verwenden, wie Lissbeth Lutter das in ihrem Roman gerne tut, die am Buchende in einem kleinen »Glossar« dann bayerische – und griechische – Formulierungen verhochdeutscht.) Alles klar: Um Mittenwald geht es natürlich, um die vom damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber einst »unangreifbare Traditionspflege« genannten pfingstlichen Feier-Rituale des »Kameradenkreises« der Gebirgsjäger im Verbund mit der Bundeswehr.
»Angreifbare Traditionspflege« nannte sich daher eine bundesweite Initiative, die sich mit unterschiedlichen Aktionsformen und historischer Aufklärung bemühte, diese Feierlichkeiten in ein anderes öffentliches Licht zu rücken. Bei den Protesten und vor allem den Aufklärungsaktionen über die mit der Gebirgstruppe verbundenen Verbrechen der Wehrmacht waren von Anfang an auch die VVN-BdA auf Bundes- und Länderebene und diverse Gurppen und Organisationen der Friedensbewegung mit dabei.
Nicht immer bestand Übereinkunft bei allen Beteiligten über das jeweilige Auftreten vor Ort, insgesamt aber lässt sich heute festhalten: Es konnte, nicht zuletzt auch dank der aktiven Teilnahme ehemaliger NS-Verfolgter wie Peter Gingold, Ernst Grube, Argyris Sfountouris oder Maurice Cling doch einiges an die Öffentlichkeit gebracht werden. Auch ganz konkrete Verbrechen betreffend, die manche der damals hoch verehrten Gebirgsjäger-»Kameraden« in Griechenland oder anderen Ländern begangen hatten. Die Dokumentation eines solchen Hearings im Rahmen der Proteste in Mittenwald ist unter dem Titel »Mörder unterm Edelweiß« 2004 im PapyRossa Verlag Köln erschienen.
Zurück nach Hinterwald zum Kriminalroman: Dort kommen zu den Aufdeckungen der alten ganz konkrete aktuelle Morde dazu, die mit einer der »Traditionspflege«-Feiern und den Aktionen dagegen verbunden sind. Als »Ich«-Erzählerin fungiert eine junge Lokaljournalistin, der erst langsam klar wird, was sich da an ihrem Arbeitsort Hinterwald im Umfeld der Gebirgsjäger-Traditionen entwickelt hat und was da nach wie vor passiert. Eine andere Protaginistin kommt aus linksautonomen Gegendemonstrantinnen-Kreisen – und die beiden Frauen sind sich längere Zeit erstmal spinnefeind. Nicht unwesentliche Rollen im Verlauf des Romans spielen diverse »Kameradschafts«-Veteranen, aber auch ein strammer junger Bundeswehrangehöriger, der Ortsbürgermeister, eine Frau aus Griechenland, die unter den Wehrmachtsverbrechen zu leiden hatte, und viele andere Leute…
Eine fesselnde Lektüre, mit beinahe 500 Seiten für einen Krimi allerdings schon ganz schön gewichtig. Aber es lohnt sich wirklich, Hinterwald und Umgebung mal näher zu erkunden.