Nur ein paar Tage

geschrieben von Nils Becker

16. September 2019

Neu entdecktes Archivmaterial zur Münchner Räterepublik

Vor 100 Jahren regierten in München vom 7. April bis 2. Mai 1919 »Rote Räte«, bis diese einzige Räterepublik auf deutschem Boden blutig von Freikorps niedergeschlagen wurde. Das sich wiederholende Bild der revoltierenden Soldaten – und Arbeiter, die das Kriegsende im November 1918 und die Abdankung des Kaisers erzwangen und von der SPD im Bündnis mit konservativ-bürgerlichen Kräften, mit Schießbefehl, Standgerichten und hohen Haftstrafen »belohnt« wurden – zeigte sich auch in München. Dennoch ist der Münchner Versuch das städtische Leben mittels rätedemokratischer Verfahren zu organisieren, singulär. Zumindest ein paar Tage entschied kein König und kein Regierungsrat über die Geschicke, sondern ein Netz von Arbeiter- und Soldatenräten.

Die Stadt München erinnerte in der ersten Hälfte dieses Jahres mit zwei Ausstellungen an diese Zeit. Während im Stadtarchiv mit »Machtwechsel« über die Dynamiken zwischen ersten Revolten im Oktober 1918 bis zur Konsolidierung des Parlamentarismus unter einer SPD-geführten Regierung im Juli 1919 historisch informiert wurde, konnte sich in der Monacensia mit der Ausstellung »Dichtung ist Revolution« zur Rolle der Schriftsteller in Revolution und Rätezeit zugewandt werden. Aus der Textkunst dieser Zeit lassen sich vor allem die die Hoffnungen herauslesen, die sich mit dem Rätemodell verbanden.

Dokumentarfilm: ROTE RÄTE - Die bayrische Revolution aus der Sicht von Augenzeugen. Von Klaus Stanjek, 2019, 62 Minuten, Aufführungen: www.rote-räte.de

Dokumentarfilm: ROTE RÄTE – Die bayrische Revolution aus der Sicht von Augenzeugen. Von Klaus Stanjek, 2019, 62 Minuten, Aufführungen: www.rote-räte.de

Etwas am Rande der offiziellen Aufmerksamkeit erschien Anfang des Jahres ein kurzer Dokumentarfilm, der die Zeit der Münchner Räte durch Interviews und Stadtspaziergänge mit sechs Augenzeugen greifbarer macht. Die Aufnahmen stammen aus den Jahren 1979/80. Die Geschehnisse lagen da schon 60 Jahre zurück und eine Gruppe Studentinnen und Studenten wollte Erinnerungen der Protagonisten bewahren. Sie holten Johann Auernhammer, Johann Haberl, Wilhelm Hagen, Karl Paintner, Otto von Ramdohr und Augustin Souchy vor die Kamera, die teilweise sehr freimütig über ihren Beitrag in der Zeit 1918-1919 berichten. So schildert Johann Haberl 1979 am Münchner Hauptbahnhof detailgetreu, wie er einen einfahrenden Panzerzug mit Freikorps fast allein unter Beschuss nahm. Der Theoretiker und Bekannte Gustav Landauers, Augustin Souchy, versucht hingegen, die Zeit analytisch für die Studentinnen begreifbar zu machen. Im hohen Alter gibt er zu Protokoll, dass die kurze Phase des Machtvakuums bzw. die Ergreifung der Macht durch die Räte genutzt wurde um schnell große Veränderungen hinsichtlich Arbeitszeitverkürzung, Frauenwahlrecht usw. zu bewirken. Diese konnten von der Folgeregierung nicht mehr so einfach zurückgenommen werden.

Die Interviews vermitteln, wie 1918/19 gedacht wurde – selbst ein Freikorpsler kommt zu Wort. Allerdings trifft diese »Oral History« die Zuschauer wenig erklärend und auch ausschließlich aus männlicher Perspektive. Abgesehen von vielen Fragen, die die Schilderungen offen lassen, fällt nach den 62 Minuten auf, dass eigentlich nichts über die konkrete Arbeit der Räte berichtet wurde. Wie waren sie verfasst? Wer beteiligte sich aus der Münchner Bevölkerung? Wie wurde der Anspruch, die Gesellschaft zu demokratisieren, in der Situation des permanenten Abwehrkampfes gegen die Freikorps und die Thule-Gesellschaft umgesetzt? Anders als in Russland konnten sich die revolutionären Kräfte in München nicht angemessen verteidigen. Lag es nur an der Übermacht der Gegner oder auch an politischen Entscheidungen?

Diese Fragen werden aber an anderer Stelle diskutiert: Neben den offiziellen Veranstaltungen der Stadt und diesem doch sehr lohnenswerten Interview-Film »Rote Räte«, hat ein Zusammenschluss aus wissenschaftlich, künstlerisch und politisch engagierten Menschen unter der Bezeichnung »PlenumR« (R für Revolution) eine Fülle an Material zusammengetragen, Unmengen an ergänzenden und erhellenden Texten publiziert und Veranstaltungen organisiert. Ihr Fokus sind die Formen der sich radikalisierenden und sich demokratisierenden Gesellschaft und der sich an solche Umbruchzeiten erinnernden Gesellschaft. Die Arbeiten sind unter raete-muenchen.de und plenum-r.org einzusehen.