Mit 105 noch aktiver Zeitzeuge
8. November 2019
Abschied vom KZ-Überlebenden Marko Feingold aus Salzburg
Es schien immer eine Art Wunder, wenn ein hundertjähriger kleiner Mann flink die Stufen zur oberbayerischen Gedenkstätte Surberg bei Traunstein hochging und dann in seinem Grußwort an die Versammelten noch um Entschuldigung bat, dass er es nicht früher geschafft hatte. Mit dem Auto von der Gedenkfeier im österreichischen Mauthausen nun hierher nach Surberg.
Kurz und bündig las er in seinem Grußwort dann oft Politikern die Leviten, wenn sie wieder einmal rechte Sprüche klopften oder die Nazivergangenheit endgültig ruhen lassen wollten – und nicht selten würzte er diese Ansprachen auch mit seinen humorvollen Bemerkungen.
So kannten Teilnehmer der Gedenkfeiern in Surberg diesen Marko Feingold, der nun mit 106 Jahren am 19. September in Salzburg verstorben ist. Seit Jahrzehnten war es ihm und seiner Frau Hanna ein Anliegen, dieses Gedenken im Nachbarland zu unterstützen. So verliert auch die Traunsteiner VVN-BdA einen wichtigen Begleiter ihrer Arbeit. Trauerbekundungen weit über Österreich hinaus zeigen die große Bedeutung, die Marko Feingold als einer der ältesten und aktivsten Zeitzeugen des Naziterrors besaß. Bis zum letzten Jahr war er unermüdlich vor Schülern und Studenten tätig – von Salzburg bis Wien, München oder Auschwitz. Nicht allein, um von seiner Leidenszeit zu erzählen, sondern vor allem, um auf die heutige Verantwortung für Menschenrechte und weltweiten Frieden hinzuweisen.
Seine Lebensgeschichte erzählte er auch 2013 in Surberg. Hundert Jahre vorher, 1913, wurde er in Banská Bystrika in der heutigen Slowakei geboren, das damals zum Habsburgerreich gehörte. Er wuchs mit seinen Geschwistern in Wien auf, machte eine kaufmännische Ausbildung und folgte seinem Bruder als Handelsreisender nach Italien. Um den Pass verlängern zu lassen, kehrten sie Ende Februar 1938 nach Wien zurück, vertrödelten einige Zeit im Fasching, der andernorts meist Karneval heißt – und wurden vom Einmarsch der Deutschen am 13. März überrascht.
Den Pass bekamen sie verlängert, aber jetzt wurde ihnen als Juden von den neuen Machthabern sogleich das »J« in den Ausweis gestempelt. »Mit so einem verlängerten Pass hätte ich in Österreich nur bis zur Grenze fahren können. Aber in keinem Land wurden wir aufgenommen … Alle Grenzen haben schnellstens geschlossen … Und das war das Unglück für viele Millionen Menschen; aber das wollen die Länder ja heute nicht mehr wissen.«
Die beiden Brüder gelangten auf abenteuerliche Weise noch nach Polen und in die Tschechoslowakei, dort jedoch wurden sie von den deutschen Besatzern verhaftet und ins KZ Auschwitz deportiert. Marko Feingolds Bruder verblieb da und wurde später ermordet – wie alle seine Familienmitglieder. Marko selbst wurde zum Arbeitseinsatz zunächst ins KZ Neuengamme verfrachtet, dann ins KZ Dachau und ins KZ Buchenwald. Bei der Befreiung 1945 durch die amerikanische Armee war er bis auf die Knochen abgemagert, aber er hatte überlebt und landete schließlich in Salzburg, das ihm zur neuen Heimat wurde.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit begann dann auch sein großes gesellschaftliches Engagement. Er half entscheidend mit, dass Zehntausende von jüdischen Leidensgenossen über den Brenner geschleust werden konnten, nach Schließung dieser Grenze auch über eine abenteuerliche Route über die Tauern nach Italien, um ihnen von dort die Überfahrt nach Palästina zu ermöglichen. Seit einigen Jahren erinnert der »Alpine Peace Crossing«-Friedensmarsch über die Krimmler Tauern nach Südtirol an dieses Ereignis, aber auch an das Schicksal von Geflüchteten heute.
Auch Marko Feingold war wiederholt dabei und erzählte von der damaligen »Fluchthilfe« für die Überlebenden des Holocaust.
Gleich in der Nachkriegszeit wurde Feingold für einige Jahre Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg, ein Amt, das er auch nach seinem beruflichen Ausscheiden als Inhaber eines Modegeschäftes von 1977 bis zu seinem Tod wieder ausübte. Und dann wurde er als vielfach geehrter Zeitzeuge der unermüdliche Mahner für Generationen junger Menschen – und für die Gesellschaft, der er nicht nachsah, wenn sie Rassismus und Antisemitismus verharmloste oder Minderheiten ausgrenzte. Denn, so sagte Marko Feingold zum Schluss seiner damaligen Rede beim Gedenken am KZ-Friedhof in Surberg an die dort von der SS erschossenen über 60 auf einen »Todesmarsch« getriebenen KZ-Häftlinge, »diese Losung ›Niemals vergessen‹ muss ewig aufrechterhalten werden, solange es die Menschheit gibt.« Friedbert Mühldorfer
Zum Weiterlesen:
Marko Feingold: Wer einmal gestorben ist, dem tut nichts mehr weh. Eine Überlebensgeschichte, Otto Müller Verlag Salzburg-Wien, 2012