Jahrzehnte vergessen

geschrieben von Bernd Kant

28. Januar 2020

Neue Dokumentation erinnert an Schweizer KZ-Häftlinge

Ob es an der überschaubaren Zahl liegt oder doch an der fehlenden gesellschaftlichen Aufmerksamkeit, wollen die Autoren einer neuen Studie nicht bewerten. Entscheidend ist aber, dass die ehemaligen Schweizer Bürger, die in verschiedenen deutschen Konzentrationslagern eingekerkert waren, im eigenen Land weitestgehend vergessen wurden. Dies ist dankenswerter Weise durch eine umfangreiche Veröffentlichung von drei historisch engagierten Journalisten im vergangenen Jahr beendet worden.

Die Idee für dieses Buch ging auf einen Besuch der Autoren im KZ Buchenwald zurück, wo sie im Jahre 2015 auf dem Appellplatz mit der Tatsache konfrontiert wurden, dass in dem Lager auf dem Ettersberg auch Schweizer inhaftiert waren. Tatsächlich gab es in der Schweiz bis dahin nur Einzelveröffentlichungen zu dem Thema. Nicht historische Institute, sondern antifaschistische Hobbyhistoriker begannen mit der Sammlung von Quellen, Dokumenten und Zeitzeugenberichten. Auf diese Materialien baute die journalistische Recherche auf, nicht ahnend, welchen Umfang diese Arbeit annehmen würde. Zeitzeugen konnten die Autoren nicht mehr befragen, die letzte bekannte Überlebende starb Anfang 2019 in Genf.

Balz Spörri/ René Staubli/ Benno Tuchschmid, Die Schweizer KZ-Häftlinge, Vergessene Opfer des Dritten Reichs, nzz-libro, Zürich 2019, 320 Seiten, 48 Euro

Balz Spörri/ René Staubli/ Benno Tuchschmid, Die Schweizer KZ-Häftlinge, Vergessene Opfer des Dritten Reichs, nzz-libro, Zürich 2019, 320 Seiten, 48 Euro

Die Dokumentation besteht aus drei Teilen. Angesichts des Fehlens von gesicherten Kenntnissen über das deutsche KZ-System haben die Autoren das erste Drittel des Buches genutzt, um das System der Konzentrationslager, die unterschiedlichen Stufen bis hin zu den systematischen Massenmorden und der »Vernichtung durch Arbeit« nachzuzeichnen. Für sie war ebenfalls ein wichtiges Thema, wie – richtiger gesagt, wie wenig – die Schweizer Regierung sich für ihre Staatsbürger in den deutschen Haftstätten einsetzte. Zwar sprechen sie von einer »verpassten Chance«, zeigen aber auch, dass die Bereitschaft zur Kooperation mit dem faschistischen Deutschland das Interesse an der Rettung der eigenen Bürger deutlich überwog. Da die Zahl der überlebenden Häftlinge in der Schweiz nach 1945 relativ gering war, gelang es nicht, eine eigene Interessensvertretung aufzubauen. Die entsprechenden Regierungsstellen zeigten keine Bereitschaft, an die verfolgten Schweizer erinnern zu lassen. Die Autoren sprechen daher vom »großen Vergessen«.

Besonders eindrucksvoll ist der zweite Teil, wo in zehn Kapiteln Verfolgungsschicksale nachgezeichnet werden. Die Autoren formulieren den Anspruch: »In den Konzentrationslagern waren sie Nummern. Im Schweizerischen Bundesarchiv sind sie Entschädigungsfälle. In diesem Buch sollen sie wieder Menschen werden.«(127) Die vorgestellten Schicksale machen die unterschiedlichen Verfolgungsgründe deutlich: »Weil sie Juden waren …, zum Widerstand gehörten …, nicht ins Gesellschaftsbild passten wie die Zeugen Jehovas …, oder einfach, weil sie zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort waren.« Gut zwei Drittel wurden in Frankreich verhaftet, viele waren Auslandsschweizer, die als Arbeitsmigranten in Frankreich lebten. In den Berichten wird deutlich, wie sie sich der französischen Résistance angeschlossen hatten oder »nachrichtendienstlicher Tätigkeit« verdächtigt, in die Fänge der Gestapo gerieten. Auch in Deutschland wurden über 50 Frauen und Männer verhaftet, zumeist lebten sie seit vielen Jahren im Land und glaubten sich wegen ihrer Schweizer Staatsbürgerschaft geschützt. In den besetzten Gebieten gerieten Schweizer oftmals in Razzien, wie der Züricher Sozialdemokrat Albert Mülli, der im November 1938 zur Arbeit nach Wien gereist war. Dort geriet er in die Fänge der Gestapo und wurde anschließend in das KZ Dachau verschleppt. Er überlebte die Haftzeit und konnte nach 1945 in die Schweiz zurückkehren. Die Autoren verschweigen nicht, dass er später wegen seiner linken politischen Überzeugung auch durch den Schweizer Nachrichtendienst bespitzelt wurde.

Mit großer Akribie listen die Autoren im dritten Teil die Schicksale von 391 Schweizer Staatsbürgern, die in faschistischen Konzentrationslagern inhaftiert waren, auf. Eine weitere Liste mit 328 KZ-Häftlingen, die von Geburt Schweizer waren, aber aus unterschiedlichen Gründen (u.a. Heirat ins Ausland) die Schweizer Staatsbürgerschaft verloren hatten, liegt ebenfalls als Material vor. Die verzeichneten Haftgründe sind ein Spiegelbild der Verfolgungsschicksale. Etwa ein Viertel der Internierten wurden als Juden verhaftet und in die Lager verschleppt. Fast zwei Dritten wegen »Widerstand«, »Beziehungen zum Widerstand« oder »nachrichtendienstlicher Tätigkeit«, was die Kontaktaufnahme zu alliierten Stellen meinte.

Da die Autoren selbst keine Möglichkeit sehen, mit den recherchierten Dokumenten weiterzuarbeiten, haben sie alle Unterlagen an das Institut für Zeitgeschichte der ETH Zürich als öffentlich zugängliches Archiv übergeben mit der Hoffnung, dass darauf aufbauend weitere Forschungen und Veröffentlichungen zu diesem Thema möglich werden. Es wäre im Sinne der Erinnerung an die Schweizer KZ Opfer zu wünschen.

 

 

 

 

 

 

 

Die Frauen wurden vor allen nach Auschwitz oder Ravensbrück verschleppt, die Männer kamen zumeist nach Buchenwald, Dachau, Neuengamme oder Mauthausen. Von den über 750 Schweizer KZ-Häftlingen war der Tod von mehr als 450 nachweisbar.