Zum Beispiel Darmstadt

geschrieben von Christoph Jetter

31. Januar 2020

 Erinnerung an Opfer der NS-Verfolgung in Partnerstädten

Vor dem Eingang zum Erinnerungsort Liberale Synagoge in Darmstadt mahnt seit November 2019 eine Tafel zum Gedenken an die jüdischen Opfer der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs in den heutigen Partnerstädten der Stadt.

Darmstadt hat, wie viele deutsche Städte im Verlauf der letzten Jahrzehnte mit europäischen Städten, die unter deutscher Besatzung zwischen 1939 und 1945 gelitten haben, eine Partnerschaft geschlossen. Aus solchen »Verschwisterungen« sind – neben offiziellen Kontakten und Besuchen – oftmals lebendige Beziehungen, auch persönliche Freundschaften hervorgegangen. Jedoch: Haben wir, die Bewohner und die politisch Verantwortlichen auf der deutschen Seite uns jemals davon genau informiert, was diesen Städten und ihren Einwohnern unter der deutschen Okkupation – also unter deutschen Stadtkommandanten, unter SS, SD, Gestapo, Sicherheitspolizei, Reicharbeitsdienst, Organisation Todt und deren Kollaborateuren – tatsächlich widerfahren ist? Recherchen zum deutschen Besatzungsterror in Litauen und Lettland führten uns vor einiger Zeit zu dessen Spuren in Liepaja (früher Liebau). Die Hafenstadt im Südwesten Lettlands wurde wenige Tage nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 unter schweren Kämpfen von Heeres- und Marineeinheiten erobert. Die Herrschaft zunächst der Wehrmacht, bis zum Kriegsende dann die der SS, führte, wie die Nachforschungen ergaben, zur völligen Ausrottung der jüdischen Gemeinde Liepajas: Sie zählte bis 1941 ca. 7.000 Angehörige, im Mai 1945 haben ungefähr dreißig von ihnen dank mutiger Retterinnen und Retter in Verstecken überlebt.

Darmstädter Geschichtswerkstatt (www.geschichtswerkstatt-darmstadt.de)

Darmstädter Geschichtswerkstatt (www.geschichtswerkstatt-darmstadt.de)

Am Strand von Skede, 15 Kilometer von der Stadt entfernt, wurden tausende der jüdischen Opfer, aber auch sowjetische Kriegsgefangene, zivile Gegner und Roma in Massakern planvoll ermordet. Während der Recherche zu dieser fast vier Jahre währenden deutschen Mörderherrschaft haben wir uns gefragt, weshalb in Darmstadt, der Partnerstadt Liepajas, von dieser grauenvollen Vorgeschichte nach mehr als zwanzig Jahren der Städtefreundschaft so gut wie nichts bekannt war und warum auch wir selbst nicht früher danach gefragt haben.

Der Vorschlag, die Stadt Darmstadt sollte mit einer Gedenktafel an die deutschen Besatzungsverbrechen erinnern, wurde von der Fraktion der Grünen im Stadtparlament aufgenommen. Er wurde dem Oberbürgermeister und dem Magistrat als Auftrag weitergeleitet, allerdings haben wir ihn um die Frage erweitert, was denn wohl in den anderen europäischen Partnerstädten Darmstadts unter damaliger deutscher Besatzung geschehen sei. Wir regten weitere Nahforschungen an, denn der Gedanke, freundschaftliche Beziehungen zu diesen Städten zu unterhalten, ohne uns mit dem Geschehen unter der deutschen Besatzung und mit den von Deutschen dort begangenen Untaten auch öffentlich zu konfrontieren, erschien schwer erträglich.

Die Ergebnisse – zusammengetragen aus Literatur, über Internet, mit Hilfe von Anfragen bei Yad Vashem, in Partnerstädten, auch bei Überlebenden – machten uns fassungslos: jede der neun, damals unter deutsch-faschistische Herrschaft geratenen, heutigen Partnerstädte war Schauplatz unvorstellbarer Verbrechen. Allen gemeinsam war die planvolle Vernichtung der jeweiligen jüdischen Einwohnerschaft – im lettischen Liepaja, in Szeged und Gyönk (Ungarn) und Uzhgorod (heute Ukraine), in Trondheim (Norwegen), in Alkmaar (Niederlande), in Plock (Polen), in Brescia (Italien) und in Troyes (Frankreich); hinzu zu rechnen sind die im damaligen Reichsgebiet liegenden Partnerstädte Freiberg (Sachsen) und Graz (Steiermark).

Heute liegen diese unfassbaren Verbrechen gerade einmal siebzig, achtzig Jahre zurück: Vertreibungen, Deportationen, Massenmorde, Beraubung, Zerstörungen. Lukas Bärfuss, der Büchner-Preisträger des Jahres 2019, benannte in seiner Dankesrede genau, worauf wir in Europa stoßen, wenn wir wirklich hinschauen: »Welchen Faden auch immer ich aufnehme, hinter der nächsten oder spätestens übernächsten Ecke führt er zu einem Massengrab.« Genauso verhält es sich, wenn wir »um die nächste Ecke«, nämlich auf die jüngste Geschichte unserer Partnerstädter schauen. Dem Vorschlag, an die jüdischen Opfer deutscher Besatzungsherrschaft in den Partnerstädten mit einer Gedenktafel zu erinnern, sind Magistrat und Stadtparlament ohne Gegenstimmen gefolgt. Ein Faltblatt mit näheren Informationen zu den Ereignissen in den betroffenen Städten liegt an öffentlichen Orten in Darmstadt aus.