Befreier von Berlin

geschrieben von Ulrich Schneider

21. Mai 2020


Nachruf auf Ilja Semjonowitsch Kremer (1922-2020)

Wir müssen Abschied nehmen von Ilja Kremer. Er war seit Jahrzehnten mit den 
deutschen Antifaschisten und insbesondere mit der VVN-BdA verbunden.

Geboren im Januar 1922 in Gomel/Weißrussland, konnte er 1939 an der Fakultät für Geschichte der Leningrader Universität und ab 1940 an der Moskauer Universität studieren. Der faschistische Überfall vom Juni 1941 veränderte auch sein Leben. Statt Studium wirkte er am Schutz der Heimat mit, bei Befestigungsarbeiten und bis 1943 in einer Flugzeugfabrik als Dreher. Im Sommer 1943 wurde er Soldat in der Roten Armee und war am Kampf um Berlin beteiligt. In einem Interview 
berichtete er:

»Erst 1943, als die Rote Armee schon sehr schlimme Verluste erlebt hatte, wurde ich an die Front geschickt. So kam ich in eine Ausbildungseinheit und 1944 zur Flakartillerie des 5. Korps der 1. Belorussischen Front. Unser Weg führte von Lublin über Warschau, Posen und Landsberg an der Warthe nach Berlin. Ich hatte das Kommando über ein Flugabwehrgeschütz. … Als ich – wie viele andere Soldaten –meinen Namen an einer Säule im Reichstag hinterließ, war ich in Gedanken schon wieder zu Hause. Deshalb schrieb ich mit dem Bleistift, den ich aus einem zerstörten Schaufenster entnommen hatte, keinen militärischen Rang dazu, sondern: ‚Ilja Kremer, Universität Moskau‘. Aber mit der Heimkehr dauerte es noch einige Zeit. Weil ich deutsch konnte, wurde ich in Berlin schon bald für Übersetzungsaufgaben herangezogen.«

Dabei dolmetschte er das Verhör des Kommandierenden der Luftverteidigung von Berlin, Oberst Hans Wellermann. Im November 1945 wurde Kremer demobilisiert und kehrte nach Moskau zurück. 1948 konnte er sein Studium 
abschließen.

Damit begann seine zweite Lebensphase, in der er im Sinne seiner antifaschistischen Überzeugung als Historiker und Professor für Internationale Beziehungen tätig war. Zuerst als Redakteur und Dozent für Geschichte an der Moscow Automotive Technical School. Mitte der 50er Jahre ging er an das Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. 1974 erhielt er eine Professur an der Abteilung für Internationale Beziehungen des Instituts für Sozialwissenschaften des Zentralkomitees der KPdSU. Er begleitete als Mitglied des sowjetischen Komitees für europäische Sicherheit den Prozess der Entspannungspolitik wissenschaftlich und praktisch. Als Gastprofessor lehrte er sogar an der Freien Universität Berlin und am politikwissenschaftlichen Institut der Universität Bonn.

Von zentraler Bedeutung war seine Arbeit in der Internationale Föderation der Widerstandskämpfer (FIR). Mehrere Jahrzehnte war er politischer Sekretär der FIR und Vertreter des sowjetischen beziehungsweise russischen Komitees der Kriegsveteranen im FIR-Büro in Wien, zeitweilig als Generalsekretär und Mitglied des Präsidiums der FIR. In diesem Rahmen entwickelte er vielfältige internationale Kontakte. Bei der Reaktivierung der FIR seit 2004 war er als Berater und Vermittler von ungeheurem Wert. Die FIR ernannte ihn 2004 zum Mitglied des Ehrenpräsidiums und zeichnete ihn 2019 mit dem »Michel Vanderborght Award« aus.

Ilja Kremer war mit der deutschen antifaschistischen Bewegung vielfältig verbunden. Er war gut bekannt mit Franz von Hammerstein von der Aktion Sühnezeichen/ Friedensdienste. Mit Eberhardt Radczuweit, dem »spiritus rector« der Initiative »Kontakte/KONTAKTY«, die sich für die Entschädigung sowjetischer Kriegsgefangener stark machte, pflegte er langjährige freundschaftliche Kontakte. Auch bei der VVN-BdA war Ilja Kremer ein gern gesehener Gast. Er kam zu Bundeskongressen und Konferenzen. Auch bei der Festveranstaltung zum 70. Gründungsjubiläum der VVN-BdA war Ilja Kremer dabei. Noch im hohen Alter führte ihn eine Vortragsreise durch verschiedene Landesverbände. Unvergessen ist sein Auftritt bei der Berliner Landesvereinigung zum 9. Mai 2009 im Treptower Park beim Fest »Wer nicht feiert, hat verloren«.

Er starb am 23. März im Alter von 98 Jahren in Moskau. Wir werden ihn als Kamerad und guten Freund in Erinnerung behalten.