Solidarität als Wert

geschrieben von Regina Girod

14. Juni 2020

In Krisenzeiten und danach

Die Covid-19-Pandemie hat elementare Wahrheiten ins gesellschaftliche Bewusstsein zurückgehoben: Unser Leben ist verletzlich. Als soziale Wesen sind wir nur in der Gemeinschaft lebens- und überlebensfähig, und nur gemeinsam sind Katastrophen wie diese zu überstehen. Solidarität ist eine selbstverständliche Prämisse sozialen Lebens.

Zufrieden konstatieren Meinungsforschungsinstitute im Augenblick trotz des enormen Druck-anstiegs in der Gesellschaft auch eine Stärkung von sozialen Verhaltensweisen. Auf das Drängen der Politiker, Solidarität zu üben und Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen, dürfte das kaum zurückzuführen sein. Sie wirken eher unglaubwürdig, oft sogar verlogen. Denn dass wir heute als Gesellschaft so bedroht in dieser Katastrophe stehen, hat auch mit Politik zu tun, die seit mehr als 20 Jahren nicht nur in Deutschland durchgezogen wurde. Es sollte kein Zurück mehr geben hinter diese Erkenntnis aus der Pandemie.

Neoliberalismus tötet

Wo der Markt alles regeln soll, bleiben die Gemeinschaftsaufgaben auf der Strecke, denn sie sind nicht profitabel. Wenn das Gesundheitswesen Marktgesetzen unterworfen wird, werden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum reinen Kostenfaktor, und das schwächste Glied in dieser Kette sind die Patienten.

Warum fragt man erst jetzt danach, warum gerade in Berufen, die für das Überleben wichtig sind, so wenig verdient wird? Ganz zu schweigen von der sozialen Anerkennung. Eine Supermarktkassiererin bemerkte dazu treffend: »Nicht so wie Klofrau, aber gleich dahinter.«

Der neoliberale Umbau der Gesellschaft ging einher mit einem Wertewandel. Aus dem Mantra, jeder sei seines Glückes Schmied, wuchs die Abwertung all jener, die Hilfe brauchen oder »es kaum schaffen«. Als wäre eine Gesellschaft von Börsenjobbern denkbar oder gar erstrebenswert. Und zum Maßstab allen »Glücks« wurden materielle Werte. Die kann man messen, die sozialen nicht.

Der Staat hat das erbarmungslos befördert, zum Beispiel mit den Demütigungen des Hartz-4-Systems. Herausgekommen ist eine gespaltene Gesellschaft, ökonomisch, ideologisch und sozial. Wie lange wäre das noch gut gegangen? Covid-19 hat das Unmenschliche daran erhellt- mit statistischer Relevanz. Jeder kann nun nachvollziehen: Je brutaler der 
Marktradikalismus, umso tödlicher die Folgen. Aber können wir aus dieser Falle noch entkommen?

Antifaschismus als Menschenrechtsbewegung

Neoliberalismus ist nicht einfach nur eine Verirrung. Er hat wenige unendlich reich gemacht, die bestimmen heute vielfach die Politik. Die 
gespaltene Gesellschaft aber ist noch lebensfähig 
– dank all der Menschen, die unbeirrt soziale Werte leben. Sie sind die Mehrheit, und sie können in Bewegung kommen. Was, wenn sie begännen, Veränderungen einzufordern? Die Krise hat gezeigt, es ist mehr möglich, als anzunehmen war. Weder die Gesellschaft noch die Wirtschaft sind heute etwa am Zusammenbrechen, nur weil die schwarze Null ins Wanken kam.

Antifaschistinnen und Antifaschisten kämpfen nicht nur gegen alte und neue Nazis, sondern auch gegen Einstellungen und Verhaltensweisen, die der »gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« zugerechnet werden. Und natürlich nehmen menschenverachtende Tendenzen 
im Großen wie im Kleinen in Krisenzeiten zu. Es trifft, wie immer zuerst die Schwächsten: Geflüchtete, Arme, -Alt-e usw.. Deren Rechte zählen am wenigsten, wenn es ums Ganze geht. Sie werden übergangen, 
angegriffen und ausgegrenzt. Sie benötigen in besonderem Maße Solidarität.

»Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!« ist im Kern eine Forderung nach Menschenrechten und der Weg, sie zu erringen, ist der einer 
grenzenlosen Solidarität.

Nach der Pandemie wird unsere Gesellschaft 
eine andere sein. Doch was heißt das? Welchen Weg wird sie nehmen? An jenem Wochenende, an dem der Bundespräsident in seiner Osterrede die neu erwachte Solidarität der Deutschen feierte, gab der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann Journalisten der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ein Interview. Darin bereitet er die Bürger auf »harte Verteilungskämpfe« vor. In Baden-Württemberg wären die fünf Milliarden Euro, die die Regierung gerade eingesetzt habe, in zehn Jahren zu tilgen. Das seien 500 
Millionen Euro weniger in jedem Haushaltsjahr.
Was bisher dabei herausgekommen ist, wenn sich Minister in Parlamenten »harte Verteilungskämpfe« lieferten, ist bekannt. Am Ende wurde immer und vor allem im Sozialbereich gespart. Ob das so bleibt? Das hängt auch von der 
Solidarität der vielen ab.