Balance am Abgrund

geschrieben von Peter Steiniger

27. Juli 2020

In Brasilien stützt sich die extreme Rechte auf das Erbe von Kolonialismus und Diktatur

Jair Bolsonaros Rückhalt schwindet. Anderthalb Jahre nach seinem Amtsantritt steht nur noch ein Drittel der Wählerschaft hinter Brasiliens Staatschef. Im Kongress besitzt das Regierungslager keine sichere Mehrheit, die vormalige Bolsonaro-Partei PSL hat sich mittlerweile gespalten. Die von ihm im November 2019 neugegründete Organisation »Allianz für Brasilien« hat es bisher nicht geschafft, den Parteienstatus zu erlangen. Frühere Verbündete aus dem konservativen Lager sind zu Feinden und Konkurrenten geworden. Schon vor der Covid-19-Pandemie ereilte die Regierung eine Krise nach der anderen. Doch nun steuert das Land in eine Katastrophe. Ende Juni 2020 verzeichnete Brasilien mit mehr als 55.000 die zweitmeisten Coronavirus-Toten weltweit. Dabei sind das nur die offiziellen Zahlen. Viele Todesfälle vor allem in ärmeren und abgelegenen Regionen dürften darin nicht erfasst sein.

Verharmlosend und kontraproduktiv

Zum gefährlichen Verlauf der Seuche trägt der schlechte Zustand des öffentlichen Gesundheitswesens und die soziale und hygienische Misere in den Favelas mit ihren beengten Wohnverhältnissen für etwa elf Millionen Menschen bei. Und nicht zuletzt Bolsonaros Politik. Bei ihrem Ausbruch bagatellisierte der Präsident Covid-19 als »kleine Grippe«. Betroffen waren zunächst Angehörige der Mittelklasse, welche die Krankheit von Auslandsreisen mitbrachten – und dann ihre Hausangestellten ansteckten.

Nach einem Treffen von Bolsonaro mit US-Präsident Donald Trump Anfang März in Florida wurden mehrere Teilnehmer seiner Delegation positiv getestet. Brasiliens Präsident verwies auf seine Fitness; sportlichen Menschen wie ihm könne die Krankheit nichts anhaben. Regelmäßig widersprach er den Empfehlungen der Gesundheitsbehörden, forderte die sofortige »Rückkehr zur Normalität« und sorgte mit seinem Erscheinen an öffentlichen Orten für Menschenaufläufe. Er putschte seine Anhänger sogar zu Demonstrationen gegen die demokratischen Institutionen auf. Das Malariamittel Chloroquin sieht Bolsonaro als das Wundermittel gegen die Pandemie.

In der Coronakrise macht sich auch der Widerstand gegen Bolsonaros Autoritarismus stärker bemerkbar. Nachdem der Staatschef Mitte April seinen rational agierenden Gesundheitsminister  Mandetta gefeuert hatte, protestierten in ganz Brasilien Menschen, indem sie an Fenstern und auf  Balkonen mit Töpfen und Pfannen Lärm machten. Am letzten Sonntag im Juni wurde bei einem weltweiten Aktionstag »Stop Bolsonaro« der Abtritt des Faschisten gefordert.

Isoliert, aber mit starken Partnern

Zwar ist der Präsident politisch mittlerweile weitgehend isoliert, doch die extreme Rechte im Land längst nicht am Ende. Sie kann an eine in der Gesellschaft fest verwurzelte rassistische, frauenfeindliche und homophobe Kultur der Gewalt anknüpfen. Historisch speist sie sich aus der hier erst 1888 abgeschafften Sklaverei. In der sozialen Spaltung und in den Mentalitäten hat sie überlebt. Besonders bei den gehobenen weißen Schichten kommt die historische Umdeutung der Rechten von der Militärdiktatur 1964-1985 als einer Zeit von Sicherheit und Ordnung gut an. Für die afrobrasilianische Bevölkerung der Favelas endete die brutale Unterdrückung nie. Etwa 6.000 Menschen im Jahr werden in Brasilien von Polizisten erschossen, mehr als irgendwo sonst auf der Welt. Bei den Toten handelt es sich fast immer um schwarze junge Männer.

Brasilien ist ein Land des politischen Analphabetismus und des Glaubens. Seit Jahrzehnten auf dem Vormarsch sind die evangelikalen Freikirchen bibeltreuer Fanatiker. Ihr Einfluss auf Wirtschaft, Medien und Politik ist gewaltig. Ihre religiösen Führer garantieren Bolsonaro eine Hausmacht, die weit mehr Gewicht hat, als es die Gruppen rechtsextremer Bolsonaristas haben. Deren Einfluss auf die Öffentlichkeit ist nicht zuletzt auf die Macht einer Propagandamaschinerie zurückgeführt, die von Unternehmern finanzierte Hetzkampagnen fährt und Fake News verbreitet. Gesteuert wird das »Kabinett des Hasses« von Carlos Bolsonaro, einem von drei ebenfalls in der Politik aktiven Präsidentensöhnen. Über festen Rückhalt verfügt der Staatschef insbesondere auch bei der kasernierten Polícia Militar und einem Teil der Streitkräfte. Seine Regierung vereint Technokraten, meist Militärs, ultraliberale wie Wirtschaftsminister Paulo Guedes und ideologische Fanatiker. Sie übernehmen Ideen von Bolsonaros »Guru« Olavo de Carvalho, der Old-Right in den USA und auch des Dritten Reich.

Der Knockout droht Bolsonaro jetzt durch die Justiz. Dabei geht es zum einen um die Manipulation der sozialen Netzwerke. Gegen Sohn Flávio wird zudem in Rio wegen Geldwäsche, Unterschlagung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Dabei kommen die engen Verbindungen des Präsidentenclans zu Rios kriminellen Milizen ans Licht.

Nach dem Vorbild der USA droht auch droht auch Brasilien mit einem Rückzug aus der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Bolsonaro wirft ihr vor ideologisch gesteuert zu sein.