Alter Wein in neuen Schläuchen

5. August 2020

Klaas Junge im antifa-Gespräch zu »Hygienedemos«

antifa: Das Jüdische Forum beobachtet seit März die sogenannten Hygienedemos. Wer erscheint auf diesen Veranstaltungen?

Klaas Junge: Dort zeigt sich ein recht weites Spektrum, darunter extreme Rechte und andere Verschwörungsideolog*innen, aber auch sogenannte besorgte Bürger*innen. Letztere fühlen sich häufig zur Teilnahme ermutigt angesichts der Beschränkungen in Verbindung mit Covid-19. Die meisten Organisator*innen und Redner*innen sind allerdings keine Unbekannten. Angefangen von Ken Jebsen und anderen Videoselbstdarsteller*innen über Anhänger*innen extrem rechter Parteien bis hin zu Reichsbürger*innen. Aus den meisten Interviews mit Teilnehmenden wird deutlich, dass fast alle die Gefährlichkeit des Corona-Virus leugnen oder es gar für eine Erfindung höherer Mächte halten.

antifa: Aufmerksamkeit erhielten auch Verschwörungsmythen, denen zufolge die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung aus reinem Profitstreben die aktuelle Situation geschaffen habe. An anderer Stelle erschienen Leute, die sich den gelben Stern angeheftet hatten. Welche Bedeutung haben antisemitische Erklärungsmuster?

Klaas Junge: Antisemitismus ist auf den Hygienedemos und in der damit verbundenen virtuellen Blase stark ausgeprägt. Der Judenstern wurde mit dem Wort »ungeimpft« versehen. Das sollte suggerieren, die Verpflichtung zum Maskentragen in Geschäften sei vergleichbar mit der Situation von Jüdinnen und Juden in Nazideutschland, »arische« Geschäfte nicht betreten zu  dürfen. Auch der Glaube an eine New World Order (NWO) wird vertreten. Demzufolge wird  die Politik der USA von der jüdisch beeinflussten Ostküste gelenkt. Hierzulande nicht so prominente Projekte wie das Qanon-Netzwerk sind ebenfalls präsent. Demzufolge gäbe es in den USA einen einflussreichen Staat, der gegen Präsident Trump agiere, um eine NWO zu errichten.

Schnell wird offensichtlich, dass das alter Wein in neuen Schläuchen ist. Bekannte antisemitische Bilder werden nur modernisiert. Ein besonders krasses Beispiel ist der ehemalige Sternekoch Attila Hildmann, der in Berlin Jüdinnen*Juden und im speziellen Zionist*innen die Schuld an der Virusverbreitung gab.

antifa: Welche historischen Parallelen zu Pandemien oder Krankheiten seht ihr?

Klaas Junge:  Im Mittelalter wurden Jüdinnen*Juden Brunnenvergiftungen angelastet, die zur Pest führten. Auch zu Zeiten der Spanischen Grippe, der letzten großen tödlichen Pandemie vor rund hundert Jahren, wurde propagiert, dies wäre ein Virus, der von Jüdinnen*Juden verursacht und verbreitet worden sei. Nicht zu vergessen, das von den Nazis immer wieder herangezogene Bild des Juden als Parasiten, der Seuchen übertrage und daher »ausgemerzt« werden müsse. Diese Darstellung der Jüdinnen*Juden als Sündenböcke zieht sich bis in die Gegenwart.

antifa: Welche Rolle spielen Neonazis bei diesem Versammlungen, und wie erklärt Ihr Euch die geringe Bereitschaft von Seiten der Organisator*innen, dagegen vorzugehen?

Klaas Junge: Neonazis wie die NPD waren zeitweise stark präsent. Dennoch konnten sie kaum Einfluss auf das Geschehen erlangen und zogen sich schnell zurück. Mehr Anbiederung liefert vor allem der nur offiziell aufgelöste Flügel der AfD. Die Partei unterstützt die Forderung auf den Demos, die Kontaktbeschränkungen schnell aufzuheben. Es gibt zudem Stimmen wie die von Andreas Kalbitz, der den Corona-Virus als Hysterie abtut. Scheu oder eine Abgrenzung der Organisator*innen zu Rechten gibt es kaum. Zwar wird auf den Demos teilweise argumentiert, dass extrem rechte Einstellungen wie Antisemitismus und Rassismus keinen Platz hätten. Allerdings wird schnell deutlich, wie sehr diese Aussage eine Fassade ist. So gab es am ersten Juniwochenende in Berlin an der Siegessäule eine Bühne, auf der die »Coronarebellen« gemeinsam mit dem »demokratischen Widerstand« einen offenen Redepult organisierten. Dort konnte der sogenannte »Volkslehrer« Nikolai Nerling ebenso auftreten wie der extrem rechte Aktivist Eric Graziani. Die Leitung war nicht Willens, dies zu unterbinden.

antifa: An den staatlichen Eindämmungsmaßnahmen gibt es einiges zu kritisieren. So wird mit zweierlei Maß gemessen, wenn es um wirtschaftliche Belange oder das Versammlungsrecht geht. Spielt das auf den Demos eine Rolle?

Klaas Junge:  Anfangs gab es noch Stimmen, die die Beschränkungen als staatliche Willkür oder Maßnahmen zur besseren Überwachung bezeichneten. Ob alle Teilnehmenden das unterstützten, ist jedoch fraglich. Die Demonstrationen gingen dann weiter, obwohl die Beschränkungen heruntergefahren wurden. Ersatzweise hieß es nun, unbemerkt wären verborgene Strukturen installiert worden, die jetzt noch nicht erkennbar seien. Dieser Verweis auf das Unsichtbare ist ideal für Legendenbildung. Verschwörungsideolog*innen geben vor, die Wahrheit dennoch sehen zu können.

Klaas Junge ist Mitarbeiter des Berliner Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA e.V.)

Das Interview führte Andreas Siegmund-Schultze