Jugendliche Rundfunkverbrecher

geschrieben von Ulrich Sander

27. September 2020

Weltweit im Äther »gesurft« und Flugblätter hergestellt

Der Jugendwiderstand der Weißen Rose und der Edelweißpiraten gegen das Hitlerregime ist viel in der Literatur behandelt worden. Die Historiker Arno Klönne (1931–2015, Paderborn) und Karl-Heinz Jahnke (1934-2009, Rostock) haben Studien über das Phänomen des Widerstandes von Menschen hinterlassen, die zu Beginn der Naziherrschaft Kinder waren und aus eigenem unabhängigem Erleben zum Widerstand gelangten. Soweit sie überlebten, haben sie zumeist nach 1945 weiter antifaschistisch agiert.

Der Jugendwiderstand war da und zwar vielfältig. Karl Heinz Jahnke, der größte Kenner und Erforscher des Jugendwiderstandes, legte Kurzbiographien von insgesamt 268 Jugendlichen vor – 26 von ihnen waren junge Frauen – die von 1933 bis 1945 von den Nazis als Widerstandskämpferinnen und -kämpfer getötet wurden. Er wies darauf hin, dass allein bei den Studentengruppen der Weißen Rose in der Zeit von der ersten Flugblattverteilung im Juni 1942 bis zur letzten Gerichtsverhandlung gegen Weiße-Rose-Mitglieder im Oktober 1943 
49 ebenfalls sehr junge Widerstandskämpfer verurteilt und hingerichtet wurden. Sie sind weithin unbekannt geblieben.

Erforscht sind nunmehr die Schicksale von vier Gruppen »jugendlicher Rundfunkverbrecher«, wie die Nazis sie nannten. Heute surfen Millionen Jugendliche im Internet, um sich und andere zu informieren. Aber im Krieg gab es nicht einmal für alle Haushalte einen Rundfunkempfänger, mit dem es möglich gewesen wäre, Auslandssender zu suchen  und diese abzuhören. Solche Aktionen wurden zudem streng bestraft.

1941 entstanden in Hamburg, München und Wien unabhängig und ohne Kenntnis voneinander kleine oppositionelle Jugendgruppen, die in Flugblättern und Wandparolen für den Sturz des NS-Regimes agitierten und dafür Radioinformationen von BBC London, Radio Moskau und Radio Vatikan nutzten. 1943 entstand eine weitere Gruppe an der Handelsschule in Erfurt. Es handelte sich jeweils um Vierergruppen, in Erfurt um eine Fünfergruppe,  männlicher Jugendlicher im Alter zwischen 16 und 18 Jahren mit einem sich deutlich abhebenden Anführer. In Hamburg war dies Helmuth Hübener, in München Walter Klingenbeck, in Wien Josef Landgraf und in Erfurt Jochen Bock. Die Mitglieder aller Gruppen kamen vorwiegend aus christlich beziehungsweise bürgerlich geprägten Familien der Unter- und unteren Mittelschicht. Bei allen spielte das Abhören sogenannter Feindsender eine entscheidende Rolle. Über eine ausformulierte politische Programmatik verfügte keine der Gruppen. Alle setzten jedoch mehr oder weniger entschieden auf einen Sieg der alliierten Kriegsgegner. Die Erfurter Gruppe bezeichnete sich ausdrücklich als Teil der Bewegung »Nationalkomitee Freies Deutschland«, einer Bewegung von Kriegsgefangenen und Emigranten in der Sowjetunion.

Sämtliche Jugendgruppen des Widerstandes mittels Radioinformationen wurden hart bestraft. Der Verwaltungslehrling Helmuth Hübener aus Hamburg wurde zum Tode verurteilt und am 27. Oktober 1942 in Berlin-Plötzensee 17jährig hingerichtet. Walter Klingenbeck, 18jähriger Schalttechniker aus München, starb am 5. August 1943, hingerichtet im Zuchthaus Stadelheim. Der Wiener Gymnasiast Josef Landgraf und sein Freund Anton Brunner wurden am 23. August 1942 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt, ein Jahr später aber mit  langen Haftstrafen »begnadigt«. Der Anführer der Erfurter Gruppe Jochen Bock starb kurz nach Kriegsende an den Haftfolgen.

Keine »Rundfunkverbrecher«, jedoch entschlossene junge Widerständler, die lange verkannt wurden, waren die Edelweißpiraten, die es im Krieg in vielen Städten gab. Ein Gedenktag erinnert an die Ermordung des 17jährigen Edelweißpiraten Barthel Schink, der am 10. November 1944 in Köln öffentlich hingerichtet wurde.

Eine Besonderheit sei noch angeführt. Mit Hübener wurden am 27. Oktober 1942 auch Gustav und der 22jährige Rudolf Richter (Vater und Sohn) in Plötzensee ermordet. Der Sohn, weil er in einem Dresdner Rüstungsbetrieb Sabotage geleistet, Literatur unter anderem von Kurt Tucholsky verbreitet und zur Kriegsdienstverweigerung aufgerufen hatte. Sein kommunistischer Vater musste sterben, weil er den Sohn nicht »besser« erzogen hatte.

Eine besondere Rolle beim Vorgehen gegen die Jugendlichen spielte Justizsenator Curt Rothenberger aus Hamburg. Er verlangte, die Taten der jungen Rundfunktäter grundsätzlich vor dem Volksgerichtshof zu verhandeln, kein Jugendstrafrecht anzuwenden und möglichst die Todesstrafe zu verhängen. Zum Dank ernannte ihn Adolf Hitler zum stellvertretenden Justizminister. Weder Rothenberger, noch all die anderen Juristen, die gegen die Widerstandsjugendlichen vorgingen, wurden nach dem Krieg bestraft. Hübeners letzte Worte im Prozess waren an die Richter gerichtet: »Ich muß jetzt sterben und habe kein Verbrechen begangen. Jetzt bin ich dran, aber Sie kommen auch noch dran.« Sie sind nicht dran gekommen. Die Schule in Hamburg-Barmbek, die Hübeners Namen trägt, organisiert alle zwei Jahre ein Wettbewerbsprojekt unter dem Motto MUT ÜBEN, das helMUT hÜBENer heißt.

In Bayern und Hamburg wurden Schulen nach Helmuth Hübener beziehungsweise Walter Klingenbeck benannt. In Berlin-Plötzensee, dem Hinrichtungsort Helmuth Hübeners, erhielt die Bildungseinrichtung der dortigen Jugendstrafanstalt seinen Namen.

Zum Weiterlesen:

K.H.Jahnke »Jugend unter der NS-Diktatur 1933-1945« 2003 Ingo Koch Verlag, 680 Seiten,

Arno Klönne – »Gegen den Strom« Bericht über den Jugendwiderstand im Dritten Reich, Hannover, 1958

Lieferbare Literatur über den 
»Jugendwiderstand im Krieg« (von Ulrich Sander) ist im Shop der Bundesgeschäftsstelle der VVN-BdA in Berlin in begrenztem Maße erhältlich 
(shop.vvn-bda.de).

Der Erfurter Gruppe wurde das Buch »Nieder mit Hitler«, eine graphic Novel von Jochen Voit und Hamed Eshrat gewidmet. Über Bartholomäus Schink und die Edelweißpiraten schrieb Alexander Goeb einen rororo-panther Band. Über die »Weiße Rose« schrieb Inge Scholl ein Fischer-Buch.