Plötzliches Interesse

geschrieben von Olaf Bernau

30. September 2020


Irrtümer europäischer Migrationspolitik

Spätestens seit der als europäische »Flüchtlingskrise« etikettierten Ankunft von rund drei Millionen Migrant*innen in den Jahren 2014 bis 2016, ist die ökonomische und politische Lage in afrikanischen Ländern unter dem Stichwort der »Fluchtursachen« ins Rampenlicht der Öffentlichkeit getreten. Plötzlich begann Afrika, interessant zu werden. Allein die deutsche Bundesregierung veröffentlichte in kurzer Zeit drei Afrika-Strategien. Fluchtursachenbekämpfung avancierte zu einer Art Mantra des politischen Betriebs. Die Zahl neu ankommender Migrant*innen sollte fortan nicht nur durch restriktive Grenzpolitik, sondern auch durch eine Verbesserung der Lebensbedingungen in den Herkunftsländern reduziert werden. Doch die permanente Verschärfung der EU-Migrationspolitik ist hochgradig fragwürdig, ja menschenverachtend: Zum einen, weil sie die Gewalt auf den Flucht- und Migrationsrouten immer stärker forciert. Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge geht davon aus, dass mittlerweile mindestens genau so viele Migrant*innen in der Wüste wie auf dem Meer ums Leben kommen. Zum anderen, weil das gesamte Vorgehen – inklusive der Bekämpfung von Fluchtursachen – von gravierenden Irrtümern geprägt ist und das mit durchaus fatalen Konsequenzen.

Irrtum Nr. 1 hat mit Statistik zu tun. In der migrationspolitischen Debatte ist regelmäßig zu hören, dass sich die Zahl afrikanischer Migrant*innen in den letzten Jahren exorbitant erhöht habe. Das in diesem Kontext immer wieder bemühte Bild der gepackten Koffer ist freilich Stimmungsmache. Statistisch sind es gerade einmal 2,9 Prozent aller Afrikaner*innen (Stand: 2017), die außerhalb ihres Geburtslandes leben. Von diesen 2,9 Prozent wiederum sind gut Dreiviertel in einem der Nachbarländer unterwegs. Es kann daher nicht verwundern, dass in Europa gerade einmal 
4,1 Millionen Menschen leben, die in einem afrikanischen Land südlich der Sahara geboren wurden.

Irrtum Nr. 2 betrifft die Annahme, wonach es möglich wäre, Migration mit restriktiven Maßnahmen zu lenken oder zu stoppen. Verkannt wird, dass Mobilität in vielen Regionen Afrikas weder Ausnahme noch Notfallreaktion, sondern eine ganz normale Überlebensstrategie ist. Und dieser kulturelle Code sollte stets mitgedacht werden, wenn es um junge Leute geht, die sich tagelang auf völlig überfüllte Ladeflächen von Pickups setzen und bei sengender Hitze durch die Wüste fahren. Denn de facto fungiert die tief in der afrikanischen Geschichte verankerte Mobilitätspraxis wie ein historischer – auch durch Highttech-Zäune kaum irritierbarer – Echoraum für die »moderne« Migration Richtung Norden.

Irrtum Nr. 3 liegt die Vorstellung zugrunde, dass junge Menschen durch äußere Faktoren wie Perspektivlosigkeit, Klimawandel oder islamistischen Terror buchstäblich gezwungen würden, ihre Länder zu verlassen. Migration ist jedoch kein mechanistischer Prozess, sondern das Ergebnis komplexer und somit freiwilliger Abwägungen, an denen häufig die gesamte Familie beteiligt ist. Dies zeigt auch die 2019 veröffentlichte UN-Studie »Scaling Fences« mit knapp 2.000 Migrant*innen aus verschiedenen afrikanischen Ländern. Als Hauptmotiv geben 60 Prozent der Befragten den Wunsch an, Geld an ihre Familien zu überweisen. Hierzu passt, dass Migrant*innen im Jahr 2017 die gigantische Summe von 38 Milliarden Euro nach Subsahara-Afrika überwiesen haben. Weitere wichtige Motive sind Familienzusammenführungen, Bildung und Freiheit. Dazu gehören unter anderem frauenspezifische Migrationsmotive wie drohende Beschneidung, Frühverheiratung oder Beziehungsgewalt.

Irrtum Nr. 4 verdeutlicht, inwiefern das europäische Kalkül der Fluchtursachenbekämpfung auf einem fundamentalen Trugschluss basiert. Denn Migration wird durch Entwicklung nicht gebremst, sondern stimuliert: Wo eine Ausbildungsstätte eröffnet oder ein Bewässerungsteich angelegt wird, steigt mittelfristig der Lebensstandard der lokalen Bevölkerung. Das wiederum versetzt noch mehr junge Leute in die Lage, eine Migration ernsthaft in Erwägung zu ziehen. In der Forschung ist dieser Sachverhalt bereits seit langem als sogenannter »Migrationsbuckel« bekannt. Dieser besagt, dass grenzüberschreitende Migration ab einem jährlichen Bruttoinlandprodukt von 2.000 Dollar pro Kopf deutlich ansteigt und erst zwischen 7.000 und 13.000 Dollar pro Kopf wieder fällt. Summen, von denen viele afrikanische Länder noch weit entfernt sind.

Irrtum Nr. 5 verkennt den strukturellen Charakter von Fluchtursachen. Es reicht nicht, dumpingartige Hühnchenexporte aus Europa, leer gefischte Küstengewässer oder Rohstofflieferungen zu Schleuderpreisen zu beklagen. Vielmehr muss herausgearbeitet werden, wie Sklaverei, Kolonialismus und neokoloniale Dominanz dazu geführt haben, dass Afrika systematisch daran gehindert wurde, seine eigenen Potentiale zu entfalten. Soziale Bewegungen in Afrika fordern daher nicht nur Reparationen, sondern eine Weltwirtschaftsordnung, in der Europa seine brutale beziehungsweise toxische Interessenpolitik endlich aufgibt.

Der Autor engagiert sich bei 
Afrique-Europe-Interact (AEI). 
Das Netzwerk wurde 2010 auf Initiative malischer Aktivist*innen gegründet.  Mittlerweile sind Basis-initiativen in sieben afrikanischen und vier europäischen Ländern beteiligt, darunter mehrere kleinbäuerliche Kollektive. Politisch tritt  AEI für Bewegungsfreiheit und selbstbestimmte Entwicklung ein – zu den aktuellen Schwerpunkten gehören u.a. das Alarmphone Sahara und Kämpfe gegen Landgrabbing in Mali.

www.afrique-europe-interact.net

Zum Weiterlesen:

Westafrika: Fluchtursachen bekämpfen – aber richtig! In: Blätter für deutsche und internationale Politik, April 2019

Zwischen Gewalt, Sachzwang und alltäglicher Praxis: Zur Geschichte von Migration und Flucht in bzw. aus Afrika (Bildungsmaterialien):

www.projekt-afrika-gibt-es-nicht.de/module/modul-03/