Vor Auschwitz war Grafeneck

geschrieben von Janka Kluge

30. September 2020


80 Jahre nach Beginn der Aktion T4

Gedenktage kommen im steten Rhythmus. Einer, der nicht so im Fokus der Öffentlichkeit steht, ist der Beginn der Aktion T4, des systematischen Mords an erkrankten Menschen. Über 70.000 Menschen wurden zwischen Januar 1940 und August 1941 in Deutschland vergast. Der Name bezieht sich auf die Zentrale in der Tiergartenstraße 4 in Berlin. Dort wurden die Morde organisiert.

Im Juli 1939 fand ein Treffen von Hitler mit dem Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti, dem Chef der Reichskanzlei Hans Heinrich Lammers und Martin Bormann statt. Dabei wurde beschlossen, dass die bereits angelaufene Ermordung 
von kranken Kindern und Jugendlichen auf Erwachsene ausgedehnt werden soll. Im Oktober 1939 unterschrieb Hitler auf privatem Briefpapier den Erlass zum Mord, zurückdatiert auf den 1. September. Seit 1933 war Hitler immer wieder darauf angesprochen worden, wann er endlich Schluss mache, mit dem »unwerten Leben«. Seine Antwort war, dass die Zeit noch nicht reif sei, aber wenn die Menschen durch einen Krieg abgelenkt seien, wäre es soweit.

System der Verschleierung

Um die Verantwortlichkeiten zu verdecken, wurden eigene Gesellschaften gegründet, die nach außen getrennt voneinander in Erscheinung traten. Die »Reichsarbeitsgemeinschaft Heil und Pflegeanstalten« (RAG) verschickte die Formulare, mit denen die Menschen in den Einrichtungen erfasst wurden. Die »Gemeinnützige Krankentransport GmbH« (Gekrat) übernahm mit den sogenannten Grauen Bussen den Transport in die Vernichtungsanstalten. Die »Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege« fungierte als offizieller Arbeitgeber für die Menschen, die an den Morden beteiligt waren. Schließlich war die »Zentralverrechnungsstelle Heil und Pflegeanstalten« für die Abrechnungen zuständig.

In insgesamt sechs Anstalten, die auf ganz Deutschland verteilt waren, fanden die Morde statt. Bereits im Oktober 1939 beschlagnahmte das Innenministerium Württemberg Schloss Grafeneck auf der Schwäbischen Alb. Es wurden mehrere Baracken errichtet. Sie sollten vortäuschen, dass es sich um eine normale Einrichtung handelte. Nachdem die Menschen mit den Grauen Bussen angekommen waren, wurden sie in eine Baracke gebracht und registriert. Danach kamen sie gruppenweise in ein gegenüberliegendes Gebäude. Ihnen wurde gesagt, dass sie duschen sollen, bevor sie zu ihren Schlafstellen kommen würden. Niemand von ihnen hat den Tag der Ankunft in Grafeneck überlebt. Von Januar bis Dezember 1940 wurden hier mehr als 10.000 Menschen vergast. In den Tötungsanstalten waren eigene Standesämter untergebracht. Sie informierten die Angehörigen über den Tod ihres Familienmitglieds. Die Briefe waren oft vorgefertigte Formulare, bei denen klar wurde, dass sie nicht stimmen konnten. Da wurde Tod durch eine Blinddarmentzündung bei Menschen angegeben, die schon lange keinen Blinddarm mehr hatten. In anderen Briefen hieß es, dass die Angehörigen durch eine Lungenentzündung gestorben seien. Immer wieder zweifelten Hinterbliebene die offizielle Todesursache an und äußerten die Vermutung, dass es sich um Mord handelt. In Württemberg sprachen sich sowohl Bischoff Wurm von der evangelischen Kirche und Bischoff Sproll von der katholischen Kirche gegen die Praxis der Morde aus. Beide schwiegen aber, als jüdische Menschen systematisch aus dem öffentlichen Leben gedrängt wurden.

T4 beendet – Das Morden ging weiter

Durch einen Erlass erklärte Hitler im August 1941 die systematischen Krankenmorde für beendet. Sein Ziel war es, nach dem Überfall auf die Sowjetunion Unruhe in der Bevölkerung zu vermeiden. Der Mord an den kranken Menschen ging aber weiter. Zwar fuhren nunmehr die Grauen Busse, die zum Symbol für die Morde wurden, nicht mehr durch das Land. Fortan wurden die Menschen durch eine Überdosis Beruhigungsmittel zu Tode gespritzt, oder ihnen wurde das Essen entzogen, so dass sie verhungerten.

Zu dem Mord an den Erwachsenen kam bis zur Befreiung 1945 der Mord an Säuglingen und Kindern in sogenannten Kinderfachkliniken hinzu. Lange war dieser Teil der Euthanasie, wie es beschönigend hieß, nicht bekannt.

Von Grafeneck führen mehrere Linien zur Shoa. Da ist zum einen die offensichtlichste. Der systematische Mord durch Gas ist zum ersten Mal in Grafeneck durchgeführt worden. Zum anderen gab es aber auch eine personelle Verflechtung. Horst Schumann war Leiter der Tötungsanstalten von Grafeneck und Sonnenstein. Später war er in 
Auschwitz an Experimenten zur Zwangssterilisation durch Röntgenstrahlen beteiligt. Christian Wirth war in Stuttgart Kriminalkommissar, dann bei der Gestapo und der SS. In Grafeneck, Hadamar und Hartheim war er Büroleiter und sorgte für einen reibungslosen Ablauf der Morde. Danach wurde er der erste Kommandant des Vernichtungslagers Belzec. Es gehörte neben Sobibor und Treblinka zu den drei Vernichtungslagern der »Aktion Reinhardt«.

Aktion Reinhardt – Unter diesem Tarnnamen wurden zwischen 
Juli 1942 und Oktober 1943 bis 
zu 1,8 Millionen polnische Juden sowie rund 50.000 Roma, ebenfalls aus Polen, in Vernichtungslagern ermordet.