Die eigene Schuld…

geschrieben von Auschwitz-Komitee

21. Oktober 2020

Prozess gegen Wachmann des KZ-Stutthof: Eindrücke des Auschwitz-Komitees

Ende Juli ist das Urteil im vielleicht letzten NS-Prozess gesprochen worden. Das Gericht sprach den Angeklagten schuldig wegen der Beihilfe zum Mord in 5232 Fällen und wegen versuchten Mordes in einem Fall. Das Strafmaß: zwei Jahre auf Bewährung unter Berücksichtigung seiner Jugend zur Tatzeit bei Übernahme der eigenen Prozesskosten für seine Verteidigung. Bruno Dey muss nun wohl nicht im hohen Alter ins Gefängnis. Das ist im Sinne vieler Nebenkläger*innen, die das immer wieder betont haben.

Das Gericht definierte aber auch eine neue Form der Schuld: Jeder Bewacher hat gesehen, dass die in die Konzentrationslager Verschleppten schon beim ersten Betreten der Vernichtungslager todgeweiht waren. Die Richterin stellte fest, dass Bruno Dey seine Schuld verdrängt und gelogen hat. Und selbst in seinem letzten Wort hat er seine Schuld nicht anerkannt, er schien nur Beobachter zu sein. Wie war es möglich, dass er das Leiden sah, aber nicht berührt war, wie konnte er Menschlichkeit und Gewissen ausschalten und sich an das Grauen gewöhnen?

»Ganz normale Menschen in Deutschland haben das ganz normalen Menschen angetan – wegen eines Befehls.« Befehle wie diese dürfen nicht befolgt werden, dagegen müsse man sich stellen, auch wenn es das eigene Leben gefährdet. »Es war falsch und ein furchtbares Unrecht. Sie hätten nicht mitmachen dürfen. Sie hätten sich entziehen müssen.« Und die Richterin mahnte: »Wehret den Anfängen.« Dort, wo Unrecht geschieht, dürfe man nicht gehorchen. Und Bruno Dey habe den Massenmord mit eigenen Augen sehen können.

Die Gewissenlosigkeit habe damals ein ganzes Volk erfasst. Auch der Angeklagte habe sich an seinen Wachdienst im KZ schnell angepasst. Er klagte über die Eintönigkeit des Dienstes, er geriet nicht in einen Gewissenskonflikt, er litt nicht. Er befolgte einfach nur die Befehle. Aber der Befehl befreie ihn nicht von seiner Schuld, auch nicht mit damals 18 Jahren. Eine echte Gefühlsregung oder eine wirkliche innere Betroffenheit habe man nicht bei dem Angeklagten feststellen können.

»Nur durch Ihre Hilfe konnte der grausame Massenmord durchgeführt werden. (…) Die Wachtürme waren so nah dran, dass Sie alles sehen konnten, alles riechen konnten.« Und weiter: »Wie lässt sich Schuld messen, an der sich Tausende, Millionen beteiligt haben?«

Zur Rolle der Nebenkläger*innen betonte die Richterin, dass sie überlebt hätten, um Zeugnis abzulegen über das, was geschehen war. Erstmals wurden in diesem Prozess auch schriftliche Aussagen von Zeugen und Nebenklägern zugelassen . Das Gericht habe den erschütternden Aussagen zugehört und sei damit objektiv ein Stück über die Anklage hinausgegangen.

Das Auschwitz-Komitee hat den Prozess 45 Verhandlungstage lang seit Oktober 2019 begleitet und ein lesenswertes Prozess-Tagebuch verfasst:

www.auschwitz-komitee.de/prozess-tagebuch/