Vor den Richtern der Völker

geschrieben von Ulrich Schneider

3. Dezember 2020

Vor 75 Jahren schuf der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess Völkerrecht

»Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht!« So heißt es im Schwur von Buchenwald vom 19. April 1945. Die überlebenden Häftlinge richteten ihre Hoffnung dabei auf die alliierten Siegermächte, die schon im Oktober 1943 in Moskau festgelegt hatten, dass die Hauptkriegsverbrecher sich vor einem Gericht der Völker verantworten sollten.

Basierend auf dem »Londoner Statut«, in dem sich die vier Siegermächte über das Verfahren verständigt hatten, wurde am 20. November 1945 in Nürnberg, der Stadt der NSDAP-Reichsparteitage, der Prozess gegen 24 Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof eröffnet.

Es war eine illustre Runde, die stellvertretend für die verschiedenen Bereiche der faschistischen Herrschaft auf der Anklagebank Platz nehmen musste. Angeklagt waren führende Repräsentanten der faschistischen Reichsregierung, der NSDAP und aller ihrer Untergliederungen, der SA, der SS, des SD und der Gestapo sowie Vertreter der Wehrmacht, der Wirtschaft und des Propagandaapparates. Zu ihnen gehörten Hermann Göring, Rudolf Heß, Robert Ley und Martin Bormann, Außenminister Joachim von Ribbentrop und als »Wegbereiter« Hitlers der ehemalige Reichskanzler Franz von Papen. Für die Wehrmacht saßen Wilhelm Keitel und Alfred Jodl, Großadmiral Erich Raeder und Großadmiral Karl Dönitz sowie für das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) und damit auch für Gestapo, Kriminalpolizei und SD Ernst Kaltenbrunner auf der Anklagebank. Für die Kriegswirtschaft mussten sich der Reichsminister für Bewaffnung und Munition Albert Speer, der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz Fritz Sauckel und die Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht und Walther Funk verantworten. Für die Verbrechen in den besetzten Gebieten waren Hans Frank, Arthur Seyß-Inquart, Alfred Rosenberg, Konstantin von Neurath und Wilhelm Frick angeklagt. Für die nationalsozialistische Propagandamaschinerie standen Julius Streicher, Hans Fritzsche und Reichsjugendführer Baldur von Schirach vor Gericht.

Blick in den Schwurgerichtssaal 600. Quelle: Stadtarchiv Nürnberg, Foto: Ray D′Addario (1946)

Blick in den Schwurgerichtssaal 600. Quelle: Stadtarchiv Nürnberg, Foto: Ray D′Addario (1946)

Die vier alliierten Ankläger zeigten, dass für die Verbrechen Personen und Institutionen des faschistischen Apparates gleichermaßen Verantwortung trugen. Die Anklagepunkte des »Londoner Statuts« lauteten: Gemeinsamer Plan beziehungsweise Verschwörung, Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Angeklagt wurden Verbrechen in den vom deutschen Faschismus angegriffen und okkupiert Ländern. Das Gericht sah sich nicht als zuständig an, die faschistischen Verbrechen gegen die deutsche Bevölkerung zu ahnden. Man ging jedoch davon aus, dass mit dem Verfahren Rechtsmaßstäbe gesetzt würden, auf deren Grundlage später deutsche Gerichte diese Verbrechen selbstständig verfolgen könnten.

Urteile des Nürnberger Prozesses

Am 30. September und 1. Oktober 1946 wurden nach fast einem Jahr Verhandlungsdauer zwölf der vierundzwanzig Angeklagten zum Tode verurteilt. Sieben Angeklagte erhielten langjährige oder lebenslange Haftstrafen. Drei Angeklagte wurden freigesprochen. Die Todesurteile wurden am 16. Oktober 1946 in Nürnberg vollstreckt. Hermann Göring beging kurz zuvor mittels einer Zyankalikapsel Suizid. Die Haftstrafen wurden im Berliner Kriegsverbrechergefängnis Spandau vollstreckt, das in der Verantwortung aller vier Alliierten deren Truppen bewachten. Der letzte Gefangene Rudolf Heß tötete sich im August 1987 in der Haftanstalt.

Das Londoner Statut ermöglichte es, Verbände zur »verbrecherischen Organisation« zu erklären, so dass Angehörige dieser Formation bereits wegen Mitgliedschaft gemäß Kontrollratsgesetz Nr. 10 vor einem Militär- oder Besatzungsgericht angeklagt und verurteilt werden konnten. Als verbrecherische Organisationen wurden das Korps der Politischen Leiter der NSDAP, die Gestapo, der Sicherheitsdienst (SD) sowie die SS mit all ihren Untergliederungen eingestuft.

Völkerrechtliche Bedeutung der Nürnberger Prozesse

Als Nürnberger Prinzipien gingen folgende Grundsätze in das Völkerrecht ein:

  1. Jede Person, welche ein völkerrechtliches Verbrechen begeht, ist hierfür strafrechtlich verantwortlich.
  2. Auch wenn nationales Recht für ein völkerrechtliches Verbrechen keine Strafe androht, ist der Täter nach dem Völkerrecht strafbar.
  3. Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder sind für von ihnen begangene völkerrechtliche Verbrechen nach dem Völkerrecht verantwortlich.
  4. Handeln »auf Befehl« befreit nicht von völkerrechtlicher Verantwortlichkeit, sofern der Täter auch anders hätte handeln können.

Diese Prinzipien unterstrich auch die Generalversammlung der Vereinten Nationen in einer am
11. Dezember 1946 einstimmig verabschiedeten Resolution, die in den Folgejahren bestätigt wurde. Somit haben die Aussagen des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses und dessen juristische Prinzipien bis heute nichts an Gültigkeit verloren.

Weitergehende Informationen findet man auf der Homepage des »Memorium Nürnberger Prozesse« der Stadt Nürnberg. Im Oktober 2005 stellte das Kuratorium des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände das Projekt erstmals öffentlich vor. Die heutige wissenschaftliche Ausstellung wurde 2010 eröffnet. Sie umfasst die Dokumente zum Prozess und die Nachfolgeprozesse, die Rezeptionsgeschichte und die Bedeutung des Tribunals für das Völkerstrafrecht.
museen.nuernberg.de/memorium-nuernberger-prozesse