Die Gespenster fassen
6. Dezember 2020
Zum Tod von Ruth Klüger (1931 – 2020)
In ihrem provozierend-irritierenden Erinnerungs- und Reflexionsband »weiter leben. Eine Jugend« bescheinigte sich die Auschwitz-Überlebende und US-amerikanische Germanistin Ruth Klüger 1992 ein »Talent zur Freundschaft« oder genauer, man sage über sie, sie habe ein solches. Als Leser hat man den Verdacht, dass diese Freundschaften nicht ganz einfach gewesen sein können. Der vorherrschende Ton des Buches ist schneidend, bissig, angriffslustig. Verschont bleibt niemand – nicht ihr akademisches Milieu, nicht Anna Seghers und Paul Celan, nicht die eigene Mutter, nicht die eigenen Kinder und der deutsche Leser, für den »weiter leben« als »…ein deutsches Buch« geschrieben ist, schon gar nicht. Man kann sich gut vorstellen, dass Studierende mit gemischten Gefühlen zu ihren Seminaren geeilt sind. Zu lernen gab es bei ihr als führender Vertreterin ihres Faches in den USA sicher viel, aufmunternde Worte vermutlich wenige.
Sie zeichnet auf, wie sie als halbverhungertes Mädchen von Wien nach Theresienstadt, von dort nach Auschwitz und Christianstadt verschleppt wurde. Es ist eine Überlebensgeschichte voll entsetzlicher Erlebnisse und als solche zwar wahr, aber gleichzeitig als eine Ausnahme in die Irre führend. Ihr ist völlig klar, dass es ein unaufhebbarer Widerspruch ist, dass ihr Überleben das zu widerlegen scheint, was sie über Auschwitz zu sagen hat. Sie mahnt, dass der Leser sich davor hüten möge, ihre Geschichte auf ein »Hoffnungskonto« zu schreiben, nicht auf ihres und schon gar nicht auf das eigene.
Einen Gutteil der sogenannten »Erinnerungskultur« wischt sie beiseite. Hohn und Spott hat sie für Museen und Gedenkstätten übrig. Ein Beispiel: »Es liegt dieser Museumskultur ein tiefer Aberglaube zugrunde, nämlich dass die Gespenster gerade dort zu fassen seien, so sie als lebende aufhörten zu sein. Oder viel mehr kein tiefer, sondern eher ein seichter Aberglaube, wie ihn auch die Grusel- und Gespensterhäuser in aller Welt vermitteln.« Sie schreibt, dass es an einem richtigen Begriff für das KZ fehle, einem Analogon zu »land-scape« (Landschaft). KZ war nur die Gesamtheit von Ort, Menschen und Handeln, ein »Ort in der Zeit – eine »Zeitschaft«. Gedenkstätten würden deshalb notwendigerweise eine falsche Vorstellung erzeugen.
Es sind radikale Angriffe. Der US-Historiker Lawrence Langer nannte es das Problem, »den Holocaust zuzugeben.« Gedenkstätten, Kunstwerke, aber eben auch viele Erinnerungswerke, die sich mit den Vernichtungslagern beschäftigen, würden genau soviel verbergen wie sie zeigen, weil sie das Ausmaß des Schreckens nicht vor den Rezipienten und nicht einmal vor sich selbst darzustellen wagen. Was fehle, seien häufig Bezüge auf den unglaublichen Dreck und Gestank einerseits und auf den psychischen, um nicht zu sagen, moralischen Verfall der Eingesperrten andererseits. Die Geschichten über Zusammenhalt und Solidarität in den Lagern, die vielen Überlebenden so wichtig geworden sind, sind denn auch für Klüger eine Art Besänftigungsfolklore, bestenfalls Ausnahmen. Die Zerstörungsmechanismen des KZ hätten selbstverständlich nicht vor dem Innersten der Insassen halt gemacht, sondern im Gegenteil das Schlechteste hervorgerufen. Auschwitz sei »keine Lehranstalt für irgend etwas gewesen und schon gar nicht für Humanität und Toleranz«, so Klüger.
Die gleiche Abwehr richtet sie gegen die politische Inanspruchnahme der Toten, zugespitzt zum Beispiel in den Sätzen: »Sie starben nicht für uns, und wir, weiß Gott, leben nicht für sie.« Damit sind gleich alle gemeint: kommunistische Regimes, Israel, die USA und Deutschland sowieso.
Schaut man sich deutsches offizielles Gedenken, Spielfilme und dergleichen an, so spürt man am Ende oft ein sühnestolzes Innehalten, eine Belobigungserwartungshaltung: Jetzt haben wir doch genug ge-seufzt, jetzt müsst ihr uns bitteschön auch verzeihen… Oder etwa nicht?!
Dagegen schreibt Klüger an: »Ihr müsst euch nicht mit mir identifizieren, es ist mir sogar lieber wenn ihr es nicht tut… Aber lasst euch doch mindestens reizen, verschanzt euch nicht, sagt nicht von vornherein, das gehe euch nichts an oder es gehe euch nur innerhalb eines festgelegten, von euch im Voraus mit Zirkel und Lineal säuberlich abgegrenzten Rahmens an, ihr hättet ja schon die Photographien mit den Leichenhaufen ausgestanden und euer Pensum an Mitschuld und Mitleid absolviert. Werdet streitsüchtig, sucht die Auseinandersetzung.«
Ruth Klüger ist am 6. Oktober diesen Jahres in Kalifornien mit 88 Jahren verstorben. Mit ihrem Buch »weiter leben« kann man sich bis auf weiteres nicht arrangieren. Und genau deshalb ist es für die nächsten Jahrzehnte ein ganz wichtiges deutschsprachiges Buch für Antifaschist*innen.
Die Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger wanderte 1947 in die USA aus. Sie war Professorin für Germanistik an der University of California und ab 1988 auch Gastprofessorin in Göttingen. Sie gab viele Jahre die Zeitschrift »German Quarterly« heraus. Ihr Spezialgebiet war Heinrich von Kleist.
Thomas Willms ist Bundesgeschäftsführer der VVN-BdA und hat sich in seinem Buch »Auschwitz als Steinbruch: Was von den NS-Verbrechen bleibt« ebenfalls mit der Erinnerung an den Holocaust auseinandergesetzt.