Leerstelle der Euphorie
12. Dezember 2020
Gespräch zum Geschichtsprojekt zweiteroktober90.de
antifa: Am 3. Oktober wird seit 30 Jahren der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der BRD als sogenannte Wiedervereinigung gefeiert. Der Nationalfeiertag ist im Einigungsvertrag von 1990 festgelegt worden. Bei den Gedenkfeiern wird vor allem die Geschichte des nach 1945 in Ost und West geteilten Deutschlands und der Sieg der sogenannten friedlichen Revolution der DDR-Bürger*innen erzählt. Thematisiert werden aber auch aktuelle Herausforderungen des nationalen Zusammenhalts. Mit eurer Dokumentation erzählt ihr eine andere Geschichte des Tages. Welche ist das?
Laura und Julian: Bis heute besteht ein sehr einseitiges Bild der »Wiedervereinigung«. Die vermeintliche Erfolgsgeschichte ist vor allem von einem deutschen, konservativen Blick geprägt. Diejenigen, die andere Erfahrungen gemacht haben, hören sich diese Interpretation seit 30 Jahren an. Aber ihre Erfahrungen sind nun einmal auch Bestandteil der deutsch-deutschen Geschichte. Es stellt sich die Frage, was die Vereinigung für Menschen bedeutete, die die Euphorie nicht teilten. Sie sahen sich von Ideen bedroht, die mit der Vereinigung
einhergingen.
Man kann sich fragen, ob unsere Dokumentation die Geschichte des post-faschistischen Deutschlands oder des prä-faschistischen ist. Das ist schwer zu beantworten. Es ist auf jeden Fall die Geschichte derer, die zu den Vorstellungen deutschnationaler Vertreter der beiden Deutschländer nach 1945 nicht passten. In der Vereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 sahen einige den Beginn der Verwirklichung ihrer deutschnationalen Wünsche. Menschen, die aufgrund ihres Aussehens, ihrer politischen Einstellung oder ihres Glaubens diesen völkischen Vorstellungen nicht entsprachen, sollten gewaltsam ausgeschlossen werden. In diesem Sinne unterziehen wir auch den Begriff der »Friedlichen Revolution« einer zeitgeschichtlichen Prüfung. Bei den »Montagsdemonstrationen« wurden in nicht unerheblichem Maße auch nationale, faschistische und neonazistische Ideen geäußert. Am Vorabend des 3. Oktober 1990 gab es dann eine Reihe gewaltsamer Angriffe auf alternative Wohnprojekte und migrantisch bewohnte Häuser. Zusammenfassend kann diese Zeit dem Prädikat »friedlich« nicht standhalten.
antifa: Wie seid ihr auf das Thema aufmerksam geworden und wie habt ihr gearbeitet, um diese Informationen zusammenzustellen?
Laura und Julian: In der Zeit um die Vereinigung 1990 gab es viel rechte und nationalistische Gewalt. Der 2. und 3. Oktober 1990 sind dabei symbolträchtige Tage, an denen die damals konkurrierenden Vorstellungen über die Zukunft der beiden deutschen Staaten zum Ausdruck kam. Wir hörten in unserem Umfeld Berichte über rechte Angriffe auf Linke und Migrant:innen und deren Wohnräume zu jener Zeit. In der Folge suchten wir in Zeitungen nach diesen Angriffen. Eine Art Schneeballprinzip also. Unsere Recherche umfasste neben Forschungsliteratur vor allem lokale Zeitungen. Dort waren die Angriffe meistens nur eine Randnotiz oder wurden als Auseinandersetzung zwischen konkurrierenden Jugendgruppen dargestellt. Für weitere Informationen beziehungsweise eine Perspektiverweiterung haben wir auch in antifaschistischen Archiven recherchiert. Zudem konnten wir Kontakte zu einigen Betroffenen der Angriffe aufnehmen, mit denen wir teils auch »Zeitzeug*innen«-Interviews geführt haben.
antifa: Warum beschränkt ihr euch auf den 3. Oktober? Die Übergriffe von Neonazis auf Migrant*innen und Linke begannen nicht erst im Herbst. Schon im Sommer 1989 gab es organisierte Angriffe.
Laura und Julian: Der Fokus des Projekts ist sicherlich sehr klein. Dessen sind wir uns bewusst. Dennoch kann ein genauer Blick auf diesen symbolhaften Tag die Geschichte der Vereinigung aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen. Unser Projekt ist keineswegs abgeschlossen. Es soll vielmehr anstoßen zu weiteren Recherchen. Zum rechten Klima, das unter anderem in gewaltsamen Übergriffen zum Ende der 1980er/ Beginn der 1990er Jahre in beiden deutschen Staaten deutlich wird, gibt es eine Reihe von Forschungsergebnissen und antifaschistischen Recherchen. Innerhalb dieser Ergebnissicherung erheben wir keinesfalls Anspruch auf eine vollständige Darstellung. Mit der Dokumentation rechter Gewalt am 2. und 3. Oktober füllen wir eine (symbolhafte) Leerstelle in der Ideologiegeschichte des Neofaschismus in Deutschland nach 1945.
Das Gespräch führte Nils Becker mit den Projektbeteiligten Laura und Julian.
Die Thüringer Konstantin Behrends, Julian Kusebauch, Laura Peter und Thomas Wicher haben die Online-Dokumentation zusammengestellt.
Empfehlenswert ist auch das Ausstellungsprojekt »Anderen wurde es schwindelig. 1989/90: Schwarz, jüdisch, migrantisch«
schwindelig.org