Verklärung birgt Gefahren

geschrieben von Sebastian Schröder

21. Januar 2021

Eckart Conze über die Schatten des Kaiserreichs

Der 18. Januar 1871, der Tag der Gründung des deutschen Nationalstaates im Spiegelsaal von Versailles, jährt sich zum 150. Mal. Einflussreiche Kräfte von rechts deuten die Geschichte des autoritären Kaiserreiches positiv, um ihrer deutschnationalen Politik eine Legitimation zu verschaffen. Dem verharmlosenden Erinnerungskult an das Kaiserreich und seinen nationalistischen Traditionen setzt der Historiker Eckart Conze sein neues Buch »Schatten des Kaiserreiches – Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe« entgegen. Er fragt: »Begann 1871, was zwischen 1933 und 1945 so katastrophal endete? War im Kaiserreich das ›Dritte Reich‹ bereits angelegt?« Conze will zeigen, dass sowohl die Entstehung des Nationalstaates, seine Konstruktion und vor allem die reaktionären gesellschaftlichen Strukturen in den Ersten Weltkrieg geführt, die Weimarer Republik zerstört und den deutschen Faschismus ermöglicht haben.

Weg zur Reichsgründung

»Schatten des Kaiserreiches – Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe«, dtv-Verlagsgesellschaft, 288 Seiten, 22 Euro

»Schatten des Kaiserreiches – Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe«, dtv-Verlagsgesellschaft, 288 Seiten, 22 Euro

Zu Beginn beschreibt der Autor den Weg zum Nationalstaat. Die Befreiung von der französischen Besatzung 1813 gehört zur Vorgeschichte der »Reichsgründung« ebenso wie die »Rheinliedbewegung« 1840 und die bürgerliche Revolution 1848. Seit der Niederlage der 1848er-Revolution lenkt Bismarck die Entstehung des Nationalstaates unter der Vorherrschaft von Preußen. Es ist eine der nachdrücklichsten Feststellungen Conzes, dass Bismarck erst mit der Unterstützung der Liberalen seine »Revolution von oben« und seine Kriege durchsetzen konnte. Im Anschluss folgt der entscheidende Teil des Buches: Conze benennt offen, was den 1871 im Krieg gegründeten »autoritären Nationalstaat« strukturell kennzeichnet. Jenes Kaiserreich war keine Demokratie, denn das Wahlrecht (nur für Männer) war in Preußen für 60 Prozent der Wähler eingeschränkt. Es gab auch keine festgeschriebenen Grundrechte wie in der Verfassung von 1848. Entscheidend war, dass das Parlament keine Regierung bilden und auch den Reichskanzler nicht abwählen konnte. Die Stellung von Kaiser und Reichskanzler waren institutionell unangreifbar und von Preußen dominiert.

Zu diesen Grenzen der Demokratisierung kommt der ausschließende Nationalismus. Conze schreibt: »Den äußeren Feinden der Nation, allem voran dem ›Erbfeind‹ Frankreich, entsprachen als ›Reichsfeinde‹ im Innern alle Kräfte, die sich im autoritären, kleindeutsch-preußischen und protestantischen Nationalstaat nicht wiederfanden, die ihn ablehnten, weil er im Gegensatz zu ihren politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen stand.« Gemeint sind »Katholiken, es galt für die Arbeiterbewegung und für nationale Minderheiten wie Polen, Dänen oder frankophone Elsässer, für die Anhänger der Welfen (…) und sehr bald auch schon für die deutschen Juden.« Conze erklärt weiter: »Sie alle verband die Stigmatisierung als Reichsfeinde, als ›undeutsch‹, der Vorwurf, durch nationale Unzuverlässigkeit die Einheit der Nation zu unterminieren und sie dadurch zu schwächen.« Die Bedeutung des Antisemitismus in Gesellschaft und Politik hebt der Autor ebenso hervor, und er weist auf die immer weiter wachsende Rolle der Verbände im Kaiserreich hin. Sie haben den politischen Diskurs nachhaltig nach rechts gerückt und die Lebenswelt von Millionen Deutschen über mehrere Jahrzehnte bestimmt.

Dominierender Nationalismus

Autoritarismus und Nationalismus gingen einher mit Imperialismus. Schon Mitte der 1880er Jahre annektierte das Kaiserreich den Großteil seiner Kolonien. Deutschland unterwirft die besetzten Gebiete einer drei Jahrzehnte andauernden Ausbeutung und Unterdrückung bis hin zum Völkermord. Die massive Aufrüstung und immer aggressivere Provokationen führen schließlich zur vom Kaiser und den Militärs gewünschten Eskalation. Am Ende steht der Erste Weltkrieg. Auch wer wissen will, wie Christopher Clarks »Die Schlafwandler« im Sinne der neurechten Historiker*innen den Diskurs bestimmt und was es mit den aggressiven Entschädigungsforderungen der Hohenzollern auf sich hat, findet Antworten im Buch.

Conzes wichtige »geschichtspolitische Intervention« zielt auf die Gegenwart. Gleichzeitig warnt er vor den neuen Deutschnationalen: »Nation ist in dieser Sichtweise kein demokratisches und kein freiheitliches Konzept individueller Zugehörigkeit und Teilhabe, sondern beruht auf der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gemeinschaftsfremden.« Er macht deutlich: Wer das Kaiserreich idealisiert, wendet sich gegen die Fundamente der Republik. Conze ist allerdings naiv bei der Beurteilung der Kräfte, die die Restauration beharrlich vorantreiben. Es gibt eben nicht erst seit der Gründung der AfD, der Partei der Deutschnationalen, reaktionäre Vorstöße. Der Wiederaufbau des Berliner Schlosses mit dem Humboldt-Forum wird seit 2000 geplant, der Wiederaufbau der Garnisonkirche seit 2004. 1999 führte Deutschland Krieg gegen Rest-Jugoslawien. Es vergeht keine Woche ohne Nazi-skandale in Bundeswehr, Polizei und Geheimdiensten. Darauf gibt das Buch keine Antwort.