»Ich muss Zeugin sein«

geschrieben von Christian Carlsen

17. März 2021

Eine Rigaer Jüdin über deutschen Massenmord und ihr Überleben im Untergrund

Der Bericht setzt mit dem Schicksalstag des lettischen Judentums ein: Frida Michelson hat ihre Mutter in Riga zu Besuch, als Deutschland am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfällt. Michelson weicht nach Osten aus, doch wird sie vom deutschen Vormarsch überrannt. Sie wird Zeugin von Chaos, Gewalt und den antisemitischen Übergriffen deutscher Besatzer und lettischer Kollaborateure, wobei sie auch Formen sexualisierter Gewalt dokumentiert.

Michelson kehrt nach Riga zurück. Von ihren Angehörigen fehlt jede Spur, eine Kollaborateurin hat sich in ihrer Wohnung eingenistet. Sie zieht zu einer jüdischen Freundin und muss Zwangsarbeit leisten. Dann erhält auch sie den Befehl, ins Ghetto umzusiedeln.

Die Beschreibung wird nun dichter, und Michelsons Schicksal immer ungeheuerlicher. Das Grauen gipfelt in der Passage, die den Aufzeichnungen ihren Titel gab: Bei der SS-Aktion zur Räumung des Rigaer Ghettos am 8. Dezember 1941 wird Michelson mit Tausenden lettischen Jüdinnen und Juden Richtung Rumbula getrieben, ein Kiefernwald vor den Toren der Stadt. Niemand von ihnen weiß, was droht, doch Vorahnungen lassen sie das Schlimmste befürchten.

Am Waldrand, wo ein deutsch-lettisches Mordkommando lauert, müssen sich die Opfer entkleiden. Hier versagen Michelson die Nerven: »Mich erfasst eine so grenzenlose Angst und Kopflosigkeit, dass ich anfange, mir die Haare auszureißen und hysterisch zu schreien, um den Lärm der Schüsse nicht hören zu müssen. Die Menschen neben mir sind empört, aber ich kann mich einfach nicht beherrschen. Ich beginne, den Verstand zu verlieren.«Als ein lettischer Schutzmann einen Augenblick unachtsam ist, wirft Michelson sich mit dem Gesicht nach unten »reglos wie tot« in den Schnee. Zu ihrem Glück fangen die prompt nachrückenden Opfer beim Entkleiden an, sie unter ihren Schuhen zu begraben. Stundenlang muss Michelson dem Morden zuhören, ohne sich zu rühren. Doch als der Lärm verstummt, schöpft sie neue Hoffnung. Obwohl säkular aufgewachsen, beginnt sie, ihr Überleben als göttlichen Auftrag zu begreifen: »Ich bin am Leben! Der Allerhöchste hat mich errettet, damit ich sein Zeuge bin – dieses Bewusstsein verlässt mich nicht.«

Frida Michelson: Ich überlebte Rumbula. Mit einem Nachwort von David Silbermann und einem historischen Überblick von Paula Oppermann. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2020, 222 Seiten, 22 Euro

Frida Michelson: Ich überlebte Rumbula. Mit einem Nachwort von David Silbermann und einem historischen Überblick von Paula Oppermann. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2020, 222 Seiten, 22 Euro

Es gelingt ihr, in die Nacht zu entkommen. Eine fast dreijährige Odyssee beginnt. Tagelang irrt Frida durch das verschneite Land. Manchmal lässt sie ein Bauer im Stall übernachten, manchmal bedroht man sie mit dem Tod. Mit den Kräften am Ende trifft sie auf eine lettische Familie, die sie aufnimmt, obwohl Michelson sich offenbart.

Doch als die Nachbarn misstrauisch werden, entscheidet sich Michelson, nach Riga zurückzukehren. Gelegentlich wird ihr geholfen, doch nie kann sie länger bleiben. Sie friert, hungert und leidet unter den traumatischen Erinnerungen. Oft entkommt sie den Besatzern und ihren Helfern nur knapp.

Ihre Lage bessert sich, als sie Obdach bei einer alten, tiefreligiösen Siebenten-Tags-Adventistin findet, die Michelsons Erscheinen als göttliches Zeichen deutet. Zwar kann Frida nicht lange bleiben, weil sie denunziert wird, hat nun aber die Unterstützung eines Adventisten-Netzwerks, überwiegend von Frauen. Trotz Sympathien für die deutsche Seite machen sich diese Michelsons Rettung zur Aufgabe. Die Motive sind Barmherzigkeit und ein religiös motivierter Philosemitismus. Die Helfer gehen ein hohes Risiko ein und behandeln Michelson fürsorglich, dennoch bleibt das Verhältnis asymmetrisch. Zu ihrer Akzeptanz trägt bei, dass sie eine exzellente Schneiderin ist.

Die letzten, dramatischen Tage der deutschen Besatzung im Herbst 1944 erlebt Michelson an der Seite einer ihr besonders zugeneigten deutsch-baltischen Familie. Michelsons Freude über die Ankunft der Roten Armee ist groß. Sie heiratet Motja, ebenfalls ein Überlebender des Rigaer Ghettos, und gebärt zwei Kinder. Auch ihre beiden Schwestern kehren zurück – sie haben in Russland überlebt. Michelson pflegt freundschaftlichen Kontakt zu ihren Helfern. Ab 1949 aber trübt sich die Lage ein: Der Geheimdienst NKWD unterstellt ihr, mit den Deutschen kollaboriert zu haben und beschlagnahmt ihre Aufzeichnungen. Ihr Mann wird unter dem Vorwurf zionistischer Verschwörung zur Zwangsarbeit verurteilt. Seine Gesundheit ist trotz vorzeitiger Entlassung ruiniert, er stirbt 1966.

Im selben Jahr beendet Michelson ihre neuerlichen, in Jiddisch verfassten Aufzeichnungen, die dem Buch zugrunde liegen. 1971 wandert sie mit ihren Söhnen nach Israel aus.

Ganz aus der erlebenden Perspektive Michelsons geschrieben, ist »Ich überlebte Rumbula« ein fesselndes Buch über den Überlebenskampf einer unfassbar starken Frau. Über die Täter oder die Kontexte erfahren wir konsequenterweise wenig. Dafür wird höchst anschaulich, wie viele Helfer, wie viel Glück und wie viel Kraft notwendig waren, um den unzähligen Mördern und Häschern drei Jahre lang zu entkommen.

 

Über fünf Jahrzehnte nach ihrer Niederschrift liegen die Erinnerungen von Frida Michelson nun auch auf Deutsch vor. Es ist ein erschütterndes Dokument über das Schicksal einer Rigaer Jüdin, die dem sicheren Tod entkommt und drei Jahre im Untergrund überlebt