»Diese drei von vier!«

20. März 2021

Ben Salomo zu Judentum und seiner 1.700jährigen Geschichte hierzulande

antifa: Vielerorts sind 1.700 Jahre jüdisches Leben auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands derzeit Anlass für eine Reihe von Veranstaltungen. Wie ist Dein persönlicher Blick darauf?

Ben Salomo: Der Nachname meiner Familie, Kalmanovich, verweist auf die Kalonymiden, eine alte jüdische Familiendynastie, die schon vor 1.000 Jahren bei Worms, Mainz und Speyer ansässig war. Für mich ist es also nichts Neues, dass Juden in diesen Breitengraden lebten und leben. Das Jubiläumsjahr ist bei mir eines mit gemischten Gefühlen. Vielen ist die Versuchung nah, so zu tun, als sei 1.700 Jahre alles harmonisch und in Ordnung gewesen, bis auf die sechs Jahre der Schoah. Doch genauso, wie die Kontinuität der Juden in Europa und in Deutschland dokumentiert ist, so ist auch die des Antisemitismus, der Pogrome, der Morde, der Vertreibungen 1.700 Jahre lang traurige Realität. Die Zeugnisse meiner Familie und ihre Flucht bis nach Rumänien zeigen dies ebenfalls.

Zum Jubiläum habe ich mit »Deduschka« quasi die inoffizielle Hymne beigesteuert. Der Song spiegelt die Ambivalenz und Zerrissenheit in Bezug auf jüdisches Leben hierzulande wider: 75 Jahre nach dem Holocaust zu erleben, dass das Wort Jude als Schimpfwort auf Schulhöfen gilt. Viele Juden sind sehr besorgt angesichts des grassierenden Antisemitismus, auch weil jüdisches Leben hier nur möglich ist hinter Stacheldraht, Zäunen, Mauern, Polizeischutz, Schleusen und Panzerglas. Das ist alles andere als Normalität. Und mit dem Song versuch’ ich das zum Ausdruck zu bringen.

antifa: Du bist als Vierjähriger mit Deiner Familie von Israel nach Berlin emigriert. Welche Rolle spielt Antisemitismus seitdem für Dich?

Ben Salomo heißt eigentlich Jonathan Kalmanovich. Er wurde 1977 in Israel geboren und ist u. a. Musiker und Buchautor Foto: Thomas Koehler, photothek.de

Ben Salomo heißt eigentlich Jonathan Kalmanovich. Er wurde 1977 in Israel geboren und ist u. a. Musiker und Buchautor
Foto: Thomas Koehler, photothek.de

Ben Salomo: Mich begleitet dieser am eigenen Leib leider seit meinem elften Lebensjahr, da wurde ich das erste Mal wegen meiner Herkunft angegriffen. Und zwar nicht von irgendwem, sondern meinem damaligen besten Freund, der mich aus heiterem Himmel irgendwann gefragt hat, woher ich komme und was ich bin. Er war ein südländischer Typ, ich war ein südländischer Typ, wir beide waren Migranten in Berlin-Schöneberg. Wegen meiner Antworten wollte er mich tags darauf mit ein paar älteren Jungs verprügeln. Von dem Moment an habe ich Antisemitismus immer wieder seitens Menschen mit unterschiedlichen Backgrounds erlebt. Vor allen Dingen, weil ich mich bereits als Teenager dazu entschlossen habe, zu meinen Wurzeln zu stehen, mich nicht zurückzuziehen und zu verstecken.

antifa: Du hast 2018 der Rapszene den Rücken gekehrt, u. a. aufgrund von Antisemitismus dort. War das einmal anders?

Ben Salomo: Ja, in den frühen Zeiten des deutschen Hiphop, bis vielleicht Anfang der 2000er Jahre, waren antisemitische Verschwörungsmythen in der Rapszene kaum präsent. Genauso wenig wie verkürzte und schwarzweiß artikulierte politische Songs, die sich mit dem Israel-Palästina-Konflikt befassen. Aber mit dem 11. September 2001 hat sich das schleichend geändert. So geisterte dort bald das Gerücht herum, dass 4.000 Israelis oder Juden nicht zur Arbeit im WTC erschienen seien, weil sie angeblich vor den Anschlägen gewarnt wurden. Fortan trat Antisemitismus vermehrt in der Rapszene auf, insbesondere durch klassische antisemitische Verschwörungslegenden oder im Tarnmantel des Antizionismus. Nicht alle Fans übernahmen diese Narrative, aber der Boden war leider sehr fruchtbar.

Heute würd’ ich sagen, ist die Rapszene regelrecht verseucht mit antisemitischem Gedankengut aller Strömungen sowie Spielarten. Eine neuere Facette ist, dass die Ansichten der antisemitischen BDS-Bewegung, deren Gründer radikal das Existenzrecht Israels in Frage stellen, in weiten Teilen geteilt werden. Die Szene reflektiert damit auch einen gewissen Teil unserer Gesellschaft.

antifa: Was sind probate Mittel gegen Antisemitismus?

Ben Salomo: Wichtig ist Bildungsarbeit. Hier bin ich auch aktiv und versuche zunächst einmal zu vermitteln, was Antisemitismus überhaupt ist – viele wissen das gar nicht. Bedeutend erscheint mir, es nicht dabei zu belassen, der toten Juden zu gedenken, sondern die lebenden Juden und ihre Perspektiven zu hören. Hinweisen will ich z. B. auf ein Projekt der jüdischen Gemeinden bzw. des Zentralrats der Juden: »Meet a Jew«. Da gehen beispielsweise junge Juden an Schulen, um auf Augenhöhe mit anderen Jugendlichen zu sprechen. Eine sehr wirkungsvolle Methode, um Ressentiments aufzulösen. Aber Begegnungen allein reichen nicht aus! Im Land leben gerade mal zweihunderttausend Juden unter achtzig Millionen Menschen, von denen laut Umfragen jeder vierte antisemitische Gedanken haben soll. Man kann von diesen wenigen Juden in Deutschland doch nicht erwarten, dass sie jeden Tag ehrenamtlich irgendwelche Begegnungen schaffen, um die deutsche Gesellschaft von ihrem Judenknacks zu befreien. Dafür braucht es die Mehrheitsgesellschaft selbst. Die Schweigenden, die Anständigen, die Stillen. Diese drei von vier!

Zur Frage, welche Bedeutung das Judentum bei ihm im Alltag hat, sagt Ben Salomo antifa: »Es hat sich peu à peu entwickelt. Ich komme aus einer Familie, in der die Großeltern schon aufgehört haben, die Schabbat-Kerzen anzuzünden. Wir haben die wichtigsten jüdischen Feiertage zwar gefeiert, waren aber säkular. Seit ich erwachsen bin, merke ich, dass mich gewisse Traditionen und die Spiritualität im Judentum sehr anziehen, besonders seit ich Vater wurde und eine Familie gründete. Ebenso ist meine Frau zum Judentum übergetreten. Wir begehen den Schabbat, indem wir Freitagabend die Kerzen anzünden, meine Frau backt die Challot selbst, ich segne Wein und Brot, und auch andere jüdische Traditionen leben wir. Wegen meiner jahrelangen Präsenz in der Jüdischen Gemeinde habe ich natürlich viele jüdische Freunde und Bekannte. Doch durch meine Arbeit in der Rapszene und das Aufwachsen in Berlin-Schöneberg bin ich nie in einer jüdischen Bubble gewesen, bis heute nicht«

Das Gespräch führte Andreas 
Siegmund-Schultze