Antifaschistische Kultur und Politik
26. März 2021
antifa-Spezial: Eine aktuelle Lesart aus marxistischer Sicht von Jürgen Horn
Wir haben doch bereits eine …
Wozu der Lärm. Es gibt sie doch bereits. Man sollte darüber beraten, wie man dies alles wirkungsvoller gestalten kann. Vielleicht Kongresse abhalten dazu und auf jeden Fall breiter werden. Die Angebote entwickeln. Stärker in die Öffentlichkeit gehen, unbedingt! Das wär’s dann aber auch. Oder?
Die Frage nach einer antifaschistischen Kunst und Kultur ist meiner Ansicht nach umfangreicher, und sie geht tiefer. Sie hat Voraussetzungen. Sie fängt eigentlich auch vor dem Antifaschismus an.
Sie fängt bei der Frage an, was Kunst und Kultur sind, was sie sein können, was sie bewirken. Sie fängt bei der Auseinandersetzung um Kunst und Kultur an und erst dann kommt sie zum Antifaschismus.
Kunst und Kultur
Was machen Kunst und Kultur eigentlich? Sie vermitteln Erfahrungen. Sie vermitteln ethische und moralische Werte. Sie vermitteln, ein Begriff, der momentan häufig verwendet wird, »Kulturtechniken«. Sie vermitteln Kulturtechniken, die es der oder dem Einzelnen ermöglichen, in Gemeinschaft zu leben und sie oder ihn zu befähigen, an dieser Gemeinschaft teilzuhaben. Und Teilhabe heißt immer auch Gestaltung und Mitgestaltung.
In diesem Sinne vermitteln und praktizieren Kunst und Kultur einfache unmittelbare Menschlichkeit. Und sie ermöglichen damit auch gesellschaftliche Entwicklung. Aber nicht »an sich«. Spätestens seit Peter Weiss und seiner »Ästhetik des Widerstands« wissen wir, dass es eine Kunst und Kultur der Herrschenden gibt und eine der Beherrschten – und die Möglichkeit des Widerstandes. Die Frage steht allgemein, und sie steht immer auch historisch konkret.
Das ist jetzt ganz sicher keine Definition im akademischen Sinne, doch für den Zugang zu der politischen Frage nach einer antifaschistischen Kultur ausreichend.
Die Bedingungen
Wir leben heute in einer Gesellschaft, die der Möglichkeit nach Reichtum in bisher nicht gekanntem Umfang erzeugen könnte. Es ist eine Gesellschaft, die neue Möglichkeiten für die Entfaltung des Individuums bieten könnte. Doch es ist eine Gesellschaft, in der die Verwertungsinteressen der großen, der global operierenden Kapitalgesellschaften dominieren. Wo Reichtum sein könnte, werden Mensch und Natur vernutzt. Wo reproduziert werden müsste, wird produzierend verbraucht: Mensch wird verbraucht, Natur wird verbraucht, Kultur wird verbraucht, Zivilisation wird verbraucht.
Für immer mehr Menschen verlieren Kultur und Zivilisation ihren Wert, weil sie sich in einer Situation sehen, in der sie daran nicht mehr teilhaben können. Statt Individualität zu ermöglichen, wird zunehmend eine gesichtslose, benutzbare Masse produziert.
Wie Brecht im Galilei sagt: »Wie es nun steht, ist das Höchste, was man erhoffen kann, ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können. (…) Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschreiten von der Menschheit weg sein. Die Kluft zwischen euch und ihr kann eines Tages so groß werden, dass euer Jubelschrei über irgendeine neue Errungenschaft von einem universalen Entsetzensschrei beantwortet werden könnte.«
Um genau das abzusichern braucht das heutige Kapital rechte Massenbewegungen, atomisierte organisierte Zwerge. Und genau für diese Massenbewegungen stellt eine an einer einfachen Menschlichkeit orientierte Kultur eine Gefahr dar. Es geht heute um nicht weniger als um Erhalt oder Verlust menschlicher Zivilisation.
Dabei stehen diesen rechten Akteuren Kunst und Kultur mit ihrer menschlichen, mit ihrer zivilisatorischen Grundsubstanz im Wege. Schon die deutschen Faschisten haben das gewusst und auch geschrieben. So auch Hanns Johst, ab 1935 Präsident der Reichsschrifttumskammer, in einem Hitler gewidmeten Theaterstück.
»Stacheldraht ist Stacheldraht (heißt es dort). Da weiß ich, woran ich bin … Keine Rose ohne Dornen! … Und zu allerletzt laß ich Ideen mir auf den Leib rücken! Den Kram kenne ich von 18… Brüderlichkeit, Gleichheit … Freiheit … Schönheit und Würde! Mit Speck fängt man Mäuse. Auf einmal, mitten im Parlieren: Hände hoch! Du bist entwaffnet … Wenn ich Kultur höre … entsichere ich meinen Browning!«
Gefahren und Chancen
Nie war mehr Möglichkeit an Menschlichkeit als heute, nie war sie stärker bedroht als jetzt. Monopolprofite werden immer stärker jenseits aller bisherigen zivilisatorischen Normen und Regeln erzeugt. Unmittelbare Gewalt wird zur Sicherung des Ganzen immer alltäglicher. Permanente Rechtsentwicklung, Meditationen in »seriösen« Medien darüber, dass »totalitäre« Regime auf die aktuellen Herausforderungen besser eingestellt seien, die Etablierung rechter Massenbewegungen … all das nimmt zu.
Und Hanns Jost, der da eben mit der Pistole herumgefuchtelt hat, sagt auch, wovor sie dabei Angst haben: Brüderlichkeit, Gleichheit, Freiheit, Schönheit und Würde. Das sind Werte, Normen, Orientierungen, die mit diesen Absichten und die mit rechten Bewegungen nicht zusammengehen. Das ist in einem erweiterten Sinne Walter Benjamin: Eine Kultur, die der Faschismus nicht benutzen kann.
Darin liegt auch das Dilemma der Monopolkapitalisten. Für die Entwicklung menschlicher Kräfte als Produktivkraft braucht man heute kreative flexible Persönlichkeiten. Solche Produktivkraft entspricht der eines Riesen. Aber sie brauchen ihn nicht als Riesen. Sie brauchen diesen Riesen als Zwerg, wie schon Brecht wusste.
Vor dem Riesen, ausgerüstet mit Werten und Idealen wie Brüderlichkeit, Gleichheit, Freiheit, Schönheit und Würde, haben sie Angst. Dies weist deutlich über das Monopolzeitalter hinaus.
Vor dem Hintergrund der gewaltigen Kräfte, die der Mensch für sich inzwischen entwickelt hat, liegen hier auch Notwendigkeit und Chance, all dies in einem neuen Typ von Individuum zu bündeln und sich der Rechtsentwicklung organisiert entgegenzustellen – anti-faschistisch eben. Ein Feld von realer, ein Feld von realisierbarer Utopie. Auch das Walter Benjamin: »Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist.« Und Kunst und Kultur sind in diesem Zusammenhang ein ganz wesentliches Feld, auf dem diese Auseinandersetzung stattfinden muss und zu organisieren ist.
Antifaschistische Kultur – Bereich oder Aspekt?
Jetzt kann man sagen: In Ordnung, das haben wir aber schon. Denkmäler und Statuen, Antifaschistinnenchöre, die Lieder von Ernst Busch singen, Bücher und Theaterstücke über antifaschistischen Widerstand, Rituale der Erinnerung und des Gedenkens, das Niederlegen von Kränzen, Arbeiterkunst … Und antifaschistische Kulturpolitik wäre dann eine, die darauf orientiert – das müssen wir einfach verstärken.
Diese Sicht ist klar und einfach – und leider unvollständig. Denn wenn das so ist, dann wäre antifaschistische Kunst und Kultur ein besonderer Bereich von Kunst und Kultur überhaupt. Einer, getrennt von anderem. Und darin liegt eine Gefahr, denn genau das würde am Thema vorbeigehen. Die aktuelle Auseinandersetzung ist umfassender, tiefer und prinzipieller. Was mit Rechtsentwicklung kollidiert, das ist generell der Anspruch einfacher unmittelbarer Menschlichkeit und dies nicht in einem besonderen Sektor ihrer Existenz, sondern überhaupt.
Und in dieser Auseinandersetzung unter Bedingungen, in denen allein die einfache Menschlichkeit zunehmend bedroht ist, wird der Widerstand dagegen zu einem allgemeinen Aspekt von Kunst und Kultur überhaupt. Er gehört dazu, so wie der Deichbau an der Nordsee zur Landwirtschaft gehört, weil diese immer nur im Bewusstsein der ständigen Gefahr einer Flut überhaupt möglich ist. Nur, dass Faschismus eben nichts Naturgegebenes ist, auf das man sich halt einstellen muss, wie auf das Hochwasser an der Nordsee. Man kann, man muss dagegen kämpfen, um menschlich leben zu können.
Darin besteht dann auch so etwas wie das Quadrat antifaschistischer Kunst und Kultur. Auf der einen Seite steht das Bemühen um die Verwirklichung der in Kunst und Kultur angelegten Möglichkeiten einfacher Menschlichkeit. Dieses impliziert schon den Widerstand gegen alle inhumanen Tendenzen. Gleichzeitig richtet sie sich gegen die derzeitige im Herrschaftsinteresse praktizierte Benutzung von Kunst und Kultur als Träger rechter Entwicklung. Doch sie ist außerdem auch ein Mittel für die zukunftsoffene Freisetzung der in der Gegenwart angelegten Potenziale der weiteren zivilisatorischen reproduktiven Entwicklung des Menschen in der Natur und nicht gegen diese.
Das heißt aber nicht, dass Denkmäler und Statuen, Antifaschistinnenchöre, Bücher, Theaterstücke und Erinnerungsrituale ihren Sinn und ihre Bedeutung verlieren. Im Gegenteil. Die Auseinandersetzung um den politischen Raum und um die Öffentlichkeit braucht solche Kristallisationspunkte.
Doch die Frage ist, wer auf diese Demonstrationen geht. Wer singt im Ernst-Busch-Chor? Wer blockiert die Aufmärsche der AfD? All das ist mit einem Feiertagsantifaschismus, wie ihn manche Politikerinnen und Politiker pflegen, nicht zu haben. Es ist ja nicht so, dass jemand eines schönen Morgens aufwacht und für sich beschließt, er müsse jetzt etwas tun gegen Rechtsentwicklung und Rassismus. Wer sich dafür entscheidet, tut dies aus einem in seinem täglichen Leben erlebten Konflikt heraus. Die Möglichkeit eines wirksamen Antifaschismus verankert sich im Alltäglichen. Hier entstehen die ersten Barrieren gegen den rechten Zeitgeist.
In genau dieser Auseinandersetzung werden Kunst und Kultur allgemein und überhaupt antifaschistisch – oder nicht.
Schon die Vorbereitung der Antifademo hat ihre kulturellen Voraussetzung, in der Werte, Normen und Orientierungen ausgetauscht worden sind, damit Leute überhaupt die Mühe auf sich nehmen, zu den Vorbereitungstreffen zu kommen. Es geht letztlich darum, antifaschistische Werte genau dort zu »kultivieren«, wo der Zeitgeist versucht, sie auszutreiben: im Alltag. Kultur kommt eben nicht ohne Grund ganz im Anfang von cultura (»Bebauung, Bearbeitung, Bestellung, Pflege«).
Ein paar Beispiele aus meinem Erfahrungsbereich: Da ist die Bibliothek, die ihre Bücher und ihre Räume anbietet, damit Kinder Schularbeiten machen können und sie dafür aus der räumlichen Enge ihrer Elternwohnungen herausholt – und vielleicht auch aus einer kulturellen Enge. Da ist das Antiquariat, das für Kinder aus Familien mit wenig Geld kostenlose Bücherpakete zusammenstellt. Da ist die Obdachloseneinrichtung, die sich nicht nur als ein Ort versteht, an dem Obdachlosen, Menschen mit wenig Geld, Geflüchteten die Möglichkeiten von Kunst und Kultur geboten werden, von denen sie in der »offiziellen« Gesellschaft gewöhnlich ausgeschlossen sind, sondern als einer, in dem das alles gemeinsam mit »Normalos« stattfindet. Da ist das Straßenfest, das sich über Jahrzehnte hinweg als Straßenfest der Anwohner erhalten hat und nicht zu einer Sauf- und Ramschmeile verkommen ist. Wahrscheinlich kennt jeder und jede ähnliche Beispiele. Würde man sie alle auflisten, könnte man vermutlich Bücher damit füllen. Vielleicht sollte man das auch. Auf jeden Fall aber sollte man diese Erfahrungen verallgemeinern, über sie reden und Möglichkeiten organisieren, in denen dies stattfinden kann. Eine elementare Aufgabe für Antifaschistinnen und Antifaschisten.
Kunst und Kultur sind ihrer Herkunft und ihrem Wesen nach eigentlich immer sozial. Sie können auch gegen dieses Wesentliche benutzt werden; doch prinzipiell tragen sie immer die Möglichkeit einer allgemeinen, einer elementaren Menschlichkeit in sich. Wenn sie sich der Verwirklichung dieser Möglichkeit verpflichtet fühlen, sind sie es unter den heutigen Bedingungen nur im Widerspruch zur Gefährdung dieses Anspruchs – und damit antifaschistisch. Das Spannende daran ist, dass sich die Akteure darüber unter Umständen gar nicht so sehr im Klaren sein müssen. Werden sie sich dessen aber bewusst, können sie noch wirksamer sein.
Das zu vermitteln, im Herausgehobenen der Aktion, wie auch im Alltäglichen, wäre in meinem Verständnis die aktuelle Herausforderung für eine antifaschistische Kulturpolitik.
Jürgen Horn absolvierte in den 70er Jahren ein Studium der marxistisch-leninistischen Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Heute leitet er eine Einrichtung der Obdachlosenarbeit der ev. Kirchengemeinde Heilig-Kreuz-Passion in Berlin-Kreuzberg