Die Einzeltäterthese lebt

geschrieben von Bernd Kant

16. April 2021

Urteil im Lübcke-Mordprozess

Ende Januar ging mit der Verurteilung von Stephan Ernst der Prozess wegen einer spektakulären neofaschistischen Gewalttat, dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke, zu Ende. Spektakulär deshalb, weil damit erstmals ein hoher Regierungsbeamter und prominentes CDU-Mitglied getötet wurde – und zwar wegen seines angemessenen Umgangs mit der Lage von Geflüchteten im Jahre 2015, als Deutschland zwischen Willkommenskultur und zunehmendem Rassismus stand. Der Mord ereignete sich am 2. Juni 2019 im nordhessischen Istha, auf dem Grundstück von Lübcke. Der Täter Stephan Ernst und sein Kompagnon Markus Hartmann konnten erst durch einen Zufallsfund einer DNA am Tatort entdeckt und festgenommen werden.

Der Prozess

Seit Sommer 2020 lief vor dem Staatsschutzsenat am Oberlandesgericht Frankfurt der Prozess. Er wurde nach über 40 Prozesstagen am 28. Januar 2021 mit dem Urteilsspruch beendet. Hier ist nicht Raum genug, Details des Verfahrens nachzuzeichnen, das durch mancherlei Unstimmigkeiten unter antifaschistischen Beobachtern für Kritik gesorgt hat. Insbesondere die Ausblendung des politischen Umfeldes der neofaschistischen Netzwerke in Nordhessen, der politischen Karrieren von Ernst und Hartmann sowie der Umgang mit dem zweiten Mordversuch an dem irakischen Asylbewerber Ahmed I. wurden kritisiert.

Am ersten Todestag von Walter 
Lübcke, dem 2. Juni 2020, gingen 
in Berlin Antifaschist*innen auf 
die Straße

Am ersten Todestag von Walter 
Lübcke, dem 2. Juni 2020, gingen 
in Berlin Antifaschist*innen auf 
die Straße

Es war insbesondere der Nebenklage zu verdanken, dass die Bundesanwaltschaft nicht nur den Mord an Lübcke, sondern auch den Messerangriff von Stephan Ernst auf Ahmed I. im Januar 2016 einbezog. Im Prozess wurde jedoch schon sichtbar, dass das Gericht diese Tat nicht ernsthaft zu prüfen bereit war. Bereits bei der Vernehmung von Ahmed I., der mit Hilfe eines Dolmetschers vor Gericht aussagen musste, ließ das Gericht erkennen, dass es die Vorwürfe für – zumindest – zweifelhaft hielt. Die Versäumnisse der Polizei bei den Ermittlungen zur Straftat im Jahre 2016, die »ganz selbstverständlich« von einem Streit unter Asylbewerbern ausgegangen war, richteten sich nun gegen den Geschädigten, der nun offensichtlich selbst die Beweise erbringen sollte, dass Ernst der Täter sei. Folgerichtig plädierte Ernsts Verteidiger auf Freispruch in diesem Anklagepunkt.

Der Bundesanwalt hielt an diesem Anklagepunkt fest, daher sei Ernst wegen Mordes und versuchten Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu verurteilen. Weiter forderte die Bundesanwaltschaft die besondere Schwere der Schuld festzustellen und eine Sicherungsverwahrung anzuordnen. Sein Mittäter Markus Hartmann sei wegen Beihilfe zum Mord und dem Verstoß gegen das Waffengesetz zu verurteilen.

Das Urteil

Diesem Antrag folgte das Gericht nur teilweise. Es verurteilte Ernst tatsächlich wegen Mordes in besonders schwerem Fall. Vom Vorwurf des versuchten Mordes am irakischen Asylbewerber wurde er freigesprochen. Damit wird dieses Verbrechen keine juristische Aufarbeitung erfahren. Gleichermaßen dramatisch ist der »Rückzug« des Gerichts bei dem Urteil gegen Markus Hartmann. Dieser wurde vom Vorwurf der Beihilfe freigesprochen und zu einer banalen Gefängnisstrafe – »auf Bewährung« – wegen illegalen Waffenbesitzes verurteilt.

Warum die Einzeltäterthese falsch ist

Recherchen von Antifaschisten hatten schon im Frühjahr 2020 nachgewiesen, dass Ernst und Hartmann seit vielen Jahren aktiv im gewaltbereiten neofaschistischen Netzwerk in Nordhessen verankert waren und gleichzeitig gute Kontakte zur AfD unterhielten. Diesen Zusammenhang im Prozess auszublenden bedeutet, die Angeklagten aus den sie prägenden politischen Milieus herauszulösen.

Ausgeblendet wurde auch die Beziehungsnähe von Markus Hartmann zum Verfassungsschutz. Es war schon überraschend, dass er bei seiner Festnahme den einzigen Anruf an eine direkte Durchwahl in dieser Dienststelle tätigte. Im Prozess selbst sagte er überhaupt nicht aus, begegnete aber der Anklage mit großer Selbstsicherheit – so, als wisse er, dass ihm nichts passieren könne. Seine Entlassung aus der Untersuchungshaft im Herbst 2020 war bereits ein deutliches Zeichen, wie einflussreich seine Kontaktpersonen offenbar sind.

Angesichts solch blinder Flecken wächst die Aufgabe des Untersuchungsausschusses des Hessischen Landtages, der die Verbindung von hessischen Behörden zum Lübcke-Mord untersuchen soll. Hier müssen die neofaschistischen Netzwerke und ihre Unterstützer im hessischen Verfassungsschutz, der schon 2006 beim NSU-Mord an Halit Yozgat mit seinem V-Mann-Führer Andreas Temme eine skandalöse Rolle gespielt hat, öffentlich gemacht werden. Beweisanträge dazu liegen auf dem Tisch.

Auf einer Kundgebung am Tag der Urteilsverkündung, dem 28. Januar, kritisierte der VVN-BdA-Bundessprecher Ulrich Schneider: »Die Anklage gegen Ernst und Hartmann blendete von Anfang an deren politisches Umfeld sowie die ›Karriere‹ der Täter im Netzwerk der extremen Rechten in Nordhessen aus. Das Gericht und die Bundesanwaltschaft sorgten selbst dafür, dass nicht der Hauch einer ›terroristischen‹ Vereinigung übrig blieb, so wurde z. B. das Verfahren gegen den Waffenhändler abgetrennt«