Der verlorene Winkel
17. Mai 2021
Die Restaurierung eines Gedenksteins in Mainz erzählt deutsche Geschichte
Als sich am 21. März 1948 mehr als zweihundert Überlebende der Gefängnisse und Konzentrationslager des deutschen Faschismus auf dem Waldfriedhof im Mainzer Stadtteil Mombach versammelten, bestand noch ein breiter antifaschistischer Konsens in der Gesellschaft. Die Kundgebung fand auf Einladung der VVN statt. Es wurde ein Grundstein für ein Ehrenmal für die Opfer des Faschismus gelegt. Der Mainzer Domkapitular Schwalbach, selbst ehemaliger KZ-Häftling, hielt die Rede zur Grundsteinlegung. Der damalige Oberbürgermeister Dr. Emil Kraus übernahm den Gedenkstein – mit Dank an die VVN – in die Obhut der Stadt. Neben der Inschrift »Im Gedenken an die unsterblichen Opfer des Faschismus 1933–1945« war in den roten Quarzstein ein Winkel eingemeißelt. In das Fundament ist ein Dokument eingemauert. Darin steht zu lesen: »Die VVN sieht es als ihre Ehrenpflicht an, den 11 Millionen Toten aller Nationen, die durch das Naziregime hingemordet wurden, ein bleibendes Ehrenmal auf dem Waldfriedhof Mainz-Mombach zu errichten. Aus der Bruderschaft der Nationen, die im Zuchthaus und Konzentrationslager wuchs, sollte eine neue Ära der Völkerverständigung und des Völkerfriedens entstehen.«
VVN im Visier des reaktionären Staatsapparats
Doch die Zeiten änderten sich. Der antifaschistische Konsens wurde aufgegeben, und die VVN geriet mehr und mehr in das Visier des reaktionären Staatsapparates der Adenauer-Regierung. Insbesondere die Beamtenschaft und der vormals offen faschistische Justizapparat blieben von den Versuchen einer »Entnazifizierung« unbehelligt. 1955 wurde die VVN in Rheinland-Pfalz und einigen anderen Bundesländern verboten. Versuche, dieses Verbot auch bundesweit zu erreichen, scheiterten. Von welcher Qualität die antikommunistische Hetze der 1950er Jahre geprägt war, zeugt das weitere Vorgehen der rheinland-pfälzischen CDU-Landesregierung. Auf deren Geheiß wurde die Mainzer Stadtverwaltung angewiesen, den Winkel im Gedenkstein zu entfernen. Die von der SPD geführte Verwaltung führte dies aus und ersetzte 1962 den Winkel durch ein christliches Kreuz. Zeitweise wurden sogar Gedenkveranstaltungen an dem Ehrenmal verboten. VVN-Mitglieder dieser Jahre wussten zu berichten, dass sie mitunter gezwungen waren, nachts über den Friedhofszaun zu steigen um heimlich ein Blumengebinde am Gedenkstein abzulegen.
In den 1970er Jahren wurden VVN-Aktivitäten auch in Rheinland-Pfalz nicht weiter verboten und verfolgt. Ab 1971 protestierte die Mainzer VVN kontinuierlich gegen die Veränderung des Ehrenmals und brachte einen roten Winkel unterhalb des Kreuzes am Gedenkstein an. Die Stadtverwaltung scheute sich nicht, diesen wieder abzuschlagen. Das wiederholte sich 1983. Erst 1994, als die VVN erneut einen roten Winkel an dem Gedenkstein anbrachte, wurde dieser nicht wieder entfernt.
Nun, nach fast 60 Jahren seit der staatlichen Schändung des antifaschistischen Ehrenmals, trug auch ihr anhaltendes Bemühen, dem Mombacher Gedenkstein wieder seine ursprüngliche politische Aussage zu geben, endlich Früchte. 2018 konnte die Stadtverwaltung dazu gebracht werden, den Stein restaurieren zu lassen. Im November 2019 beschloss der Mainzer Stadtrat auf Antrag der Linken, der Grünen und der SPD, das Mahnmal für die Opfer des Faschismus auf dem Mombacher Waldfriedhof – in Absprache mit der VVN-BdA – neu gestalten und damit den ursprünglichen Zustand wiederherstellen zu lassen. Nach der Diskussion in der Stadtratssitzung stimmte auch die CDU-Fraktion dem Antrag zu.
Antifakunstwerke im öffentlichen Raum
Der Bildhauer Clemens Strugalla hat überzeugende antifaschistische Kunstwerke in verschiedenen Städten der BRD, auch im öffentlichen Raum, geschaffen. Er wurde damit beauftragt, wieder einen roten Winkel in den Stein einzuarbeiten. Er hat diese Arbeit, künstlerisch ausdrucksstark, mittlerweile abgeschlossen. Ein mit roter Farbe gebrannter Winkel aus Edelmetall ist nun im Stein verankert. Auf dem kräftigen Rot des Winkels sind die verschiedenen Farben, mit denen Häftlinge in den Konzentrationslagern »markiert« wurden, mit Strichen angebracht. Entsprechend des künstlerischen Konzeptes bleiben Reste des eingemeißelten Kreuzes sichtbar; auf einer Stele am Weg vor dem Gedenkstein ist die lange Geschichte der Auseinandersetzung dokumentiert.
Während vielerorts in Deutschland Antifaschistinnen und Antifaschisten darum kämpfen, den Abriss oder die Umwidmung von Gedenkorten zu verhindern und sich für den Erhalt einsetzen, ist in diesem Fall nun sogar eine »inhaltliche Restaurierung« gelungen.
Eine detaillierte Chronik der Geschichte des Mahnmals findet sich hier: mainz.vvn-bda.de/
Die Mainzer VVN sorgte auch an anderen Stellen für eine antifaschistische Gedenkkultur. So brachte sie schon früh unter anderem eine künstlerisch gestaltete Gedenktafel an dem Haus an, in dem die Mainzer Gestapo residiert und politische Gegner in den Kellern gefoltert hatte