Ideologisch eingebettet
17. Mai 2021
Einführung zum Antisemitismus im »Dritten Reich«
Im Alltagsbewusstsein verbindet sich mit dem NS-Regime das Stichwort Judenverfolgung. Am 27. Januar und 9. November sieht man in allen Medien Dokumentationen, in Bibliotheken findet man zahllose Veröffentlichungen zum Thema. Was kann vor diesem Hintergrund eine Veröffentlichung, die sich auch noch mit knapp 160 Seiten begnügt, Neues bringen?
Der Autor Ulrich Schneider, Bundessprecher der VVN-BdA, formuliert folgenden Anspruch: »Gerade angesichts dieser Informationsflut ist es sinnvoll, in einer kompakten Einführung diese verbrecherische Politik des deutschen Faschismus und ihre jeweiligen Ausformungen nachzuzeichnen und in die Gesamtpolitik des faschistischen Herrschaftssystems einzuordnen. Viele bisherige Darstellungen – auch umfangreichere Forschungen – nehmen die Verfolgung politischer Gegner, die Gleichschaltung des gesellschaftlichen Lebens und die ›Volksgemeinschafts‹-Ideologie sowie die Kriegsvorbereitung und Expansionspolitik nur als ›Rahmenbedingungen‹ der Judenverfolgung wahr. In diesem Band wird trotz des Fokus auf den Antisemitismus dieser Aspekt in die Ideologie und Politik des NS-Regimes insgesamt eingeordnet.«
Das erste Kapitel beschäftigt sich mit den historischen Kontinuitäten des Antisemitismus. In aller Kürze zeichnet der Autor den Übergang vom religiös motivierten Antijudaismus des Mittelalters zum rassistisch legitimierten Antisemitismus seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nach, eine Entwicklung, die es in verschiedenen europäischen Ländern gab. Die NSDAP und andere antisemitische Organisationen konnten sich in Ideologie und Propaganda darauf beziehen. Die Besonderheit der deutschen Entwicklung ist jedoch, dass dies in der massenhaften industriellen Ermordung von Menschen in den Vernichtungslagern während des Zweiten Weltkrieges mündete.
Vier Stufen der Verfolgung
Der Autor folgt den in der Wissenschaft anerkannten vier Stufen der Judenverfolgung, wobei er betont, dass die Vernichtung 1933 noch nicht als Ziel definiert gewesen sei. Vielmehr eskalierte das NS-Regime nach den jeweiligen Möglichkeiten ihre antisemitische Politik.
In der ersten Phase (1933–1935), in der es noch um die Etablierung der faschistischen Herrschaft ging, stand die gesellschaftliche Ausgrenzung jüdischer Menschen mit dem Ziel der Verdrängung im Fokus. Gewalttätige Übergriffe waren mit der schrittweisen Verdrängung aus dem öffentlichen Leben verbunden. Diese Ausgrenzung wurde in den Jahren 1935 bis 1938 durch die »Nürnberger Rassengesetze« systematisiert. Parallel dazu wurden die »Arisierung« der deutschen Wirtschaft und die »Säuberung« des Kulturlebens durchgesetzt. Das Ziel war die Vertreibung jüdischer Menschen aus dem Deutschen Reich.
Häufig zitiert der Autor aus dem Reichsgesetzblatt und anderen Verordnungen. Zur Einbindung der Behörden in die antisemitische Ausgrenzung, Ausplünderung und Vertreibung galt es, für alle Mitwirkenden klare Regeln zu verfassen, hinter denen man sich nötigenfalls »verstecken« konnte: Man habe ja nur bestehende Gesetze und Verordnungen umgesetzt.
Die dritte (1938–1941) und vierte (1942–1945) Stufe waren gekennzeichnet durch zunehmende Gewalt, Massendeportationen in KZ und – während des Krieges – Ghettoisierung, Deportationen in den Osten sowie – mit der Wannsee-Konferenz von 1942 – die Organisierung der Massenvernichtung, deren bekanntester Ort das Vernichtungslager Auschwitz war.
Arbeitsteilig organisierte Verbrechen
Auch hier erließen die politisch Verantwortlichen zahllose Verordnungen im Wissen um eine Verwaltungsmentalität, die selbst unmenschliche Vorgaben nicht hinterfragt, sondern nur exekutiert. Damit entstand ein System willfähriger Unterstützer. Stadtverwaltungen, die die Deportationslisten vorbereiteten, Ortspolizeikräfte, die die jüdischen Menschen zu den Sammelstellen brachten, Finanzbehörden, die für die Verwertung des verbliebenen jüdischen Besitzes zuständig waren, Reichsbahn-Beschäftigte, die die Transporte in den Osten organisierten und gewährleisteten. Sie alle konnten sich auf »Vorschriften und Gesetze« beziehen, ohne sich ihrer eigenen Verantwortung zu stellen. Der Völkermord an den jüdischen Menschen war kein »Staatsgeheimnis«, sondern ein arbeitsteilig organisiertes und begangenes Verbrechen. Darin sieht Schneider auch eine Begründung, warum nach 1945 bei den Akteuren, Tätern und Profiteuren aus der deutschen »Volksgemeinschaft« das Bewusstsein der eigenen Schuld an diesen Verbrechen so gering war.
Minderheit übt Solidarität und rettet
Es gab auch ein anderes Deutschland. Das zeigt der Autor an Beispielen politischer Solidarität und des Rettungswiderstands, bei dem nichtjüdische Frauen und Männer unter großem Risiko gegen die Ausgrenzung agierten und das Überleben von jüdischen Menschen ermöglichten. Doch das war eine verschwindende Minderheit. Das Buch richtet sich an jüngere Menschen sowie an historisch Interessierte, die einen Überblick zum Thema Antisemitismus suchen, der über »Wikipedia« oder Lehrbuchwissen hinausgeht, ohne sich in Detailfragen zu verlieren.