Erst der Anfang

3. Juli 2021

Interview mit Israel Kaunatjike zum »Versöhnungs«-abkommen mit Namibia

antifa: Ende Mai wurde bekanntgegeben, dass sich die Bundesregierung und die namibische Regierung nach sechs Jahren Verhandlungen auf ein Abkommen zur »Wiedergutmachung« des Völkermords an den Herero und Nama während der deutschen Kolonialzeit geeinigt haben. Explizit ausgeschlossen wurden tatsächliche rechtliche Ansprüche auf Entschädigung. Stattdessen wurde eine Erhöhung der Entwicklungshilfe um 1,1 Milliarden Euro (aufgeteilt auf 30 Jahre) sowie eine offizielle Entschuldigung im namibischen Parlament vereinbart. Was ist schlecht an dem Abkommen?

Israel: Zuallererst kritisieren wir das Zustandekommen des Vertrags. Denn die Volksgruppen der Herero und Nama, die nach der Vertreibung durch die Deutschen überwiegend im Exil leben (mittlerweile wieder mehr als 100.000), saßen nicht mit am Verhandlungstisch. Sie sind zudem von den Hilfszahlungen ausgeschlossen, weil sie in den Nachbarstaaten von Namibia leben. Außerdem: Entwicklungshilfe kann Reparationen nicht ersetzen. Die namibische Regierung ist korrupt und wird das Geld schnell verpulvern. An der aktuellen Armut der Nachfahren der Herero und Nama wird sich nichts ändern. Ein weiterer Punkt ist die angebliche Entschuldigung durch Bundespräsident Steinmeier. Er will im Parlament von Windhuk sprechen, statt sich an die Orte zu begeben, wo seine Vorfahren gemordet haben. Wieso geht er nicht an den Waterberg oder in die Omaheke-Wüste, wo Tausende verdursteten? Es ist ein falsches Abkommen, mit den falschen Leuten. In der jetzigen Fassung wird dieser Vertrag für sehr viel Unmut sorgen. Steinmeier wird vor einem leeren Parlament sprechen.

antifa: Sie fordern eine Neuverhandlung des Abkommens. Was müsste es beinhalten?

Israel: Zunächst angemessene Reparationen. Den Herero und Nama wurde von den Deutschen alles genommen: Familie, Land, Vieh, Heimat und Kultur. Zudem mussten viele Zwangsarbeit leisten. Bis heute lebt der deutsche Kolonialismus in Namibia fort. Die Straßen tragen deutsche Namen und das Land ist weiterhin zu 70 Prozent im Besitz der deutschen Nachfahren. Mit Geld allein ist das nicht zu reparieren. Wir brauchen zusätzlich eine Landreform, die alle mit einbezieht – auch jene, die in der Diaspora in Südafrika, Botswana, Simbabwe oder Angola leben. Worüber auch gesprochen werden muss: Einer Versöhnung können wir uns sowieso nicht nähern, solange noch Tausende von Gebeinen unserer Familien auf deutschen Dachböden als Mitbringsel liegen. Seit 117 Jahren drückt sich Deutschland vor der Verantwortung.

antifa: Warum wehrt sich Deutschland gegen die internationale Anerkennung der Verbrechen als Völkermord?

Israel: Der Genozid, der an unseren Völkern durch das deutsche Kaiserreich Anfang der 20. Jahrhunderts verübt wurde, ist nicht die einzige Gräueltat des (deutschen) Kolonialismus, die Wiedergutmachung erfordert. Wir wollen einen Präzedenzfall schaffen. Für die Nachfahren der Opfer des Maji-Maji-Kriegs im ehemaligen Deutsch-Ostafrika (heute unter anderem Tansania) ist die Sache genauso wichtig wie für Indigene aus den Kolonien anderer europäischer Täterstaaten. Schaffen wir es hier, Reparationen durchzusetzen, werden auch andere Ansprüche stellen. Das will Deutschland, wollen aber auch andere Staaten verhindern. Seit Jahren wird versucht, die Grundlage für Reparationen – die Anerkennung von Genozid und Kolonialverbrechen – international bei den Vereinten Nationen durchzusetzen.

antifa: Was läuft falsch in der Debatte hier?

Israel Kaunatjike wurde 1947 in Namibia geboren, er lebt seit mehr als 30 Jahren in Berlin und arbeitet als Bildungsreferent zum Schwerpunkt deutsche Kolonialgeschichte in Deutsch-Südwestafrika über die Zeit der Apartheid bis ins heutige Namibia.

Israel Kaunatjike wurde 1947 in Namibia geboren, er lebt seit mehr als 30 Jahren in Berlin und arbeitet als Bildungsreferent zum Schwerpunkt deutsche Kolonialgeschichte in Deutsch-Südwestafrika über die Zeit der Apartheid bis ins heutige Namibia.

Israel: Es gab gar keine Debatte, bis diese Einigung mit Namibias Regierung bekanntgegeben wurde. Wir arbeiten als Bündnis »Völkermord verjährt nicht« schon seit vielen Jahren. 2019 war ich sogar bei Jan Böhmermann in der Sendung. Dennoch: Die Deutschen haben überwiegend keine Ahnung vom Genozid in den deutschen Kolonien, kennen die aktuelle Situation nicht und wissen auch nicht, wie dieses Abkommen nun zu werten ist. Es findet natürlich auch viel Desinformation seitens der namibischen Regierung und der deutschen Regierung statt. Hier müssen wir – und aktuell vor allem ich persönlich – viel Bildungs- und Aufklärungsarbeit leisten. Aber die Weltpresse ist sehr interessiert, und in anderen Ländern ist man informierter.

antifa: Wie geht es weiter mit dem Abkommen? Was wird passieren, wenn Bundespräsident Steinmeier nach Windhuk kommt?

Israel: Er wird vor einem leeren Parlament sprechen. 2006 haben alle Parteien eine Resolution der Herero verabschiedet, dass mit Deutschland über die Anerkennung des Genozids, Reparationszahlungen und den Dialog zwischen den beiden Ländern verhandelt werden soll. Das Ergebnis macht viele wütend. Vor allem die Jugend, nicht nur Herero und Nama, sondern alle, die sich von der Arroganz der Deutschen provoziert fühlen, werden protestieren. Das wird an den Nachfahren der deutschen Kolonialherren in Namibia nicht spurlos vorüber gehen. Am Ende geht es uns allen um Respekt. Und den lässt dieses Abkommen vermissen.

Informationen zum Völkermord an den Herero und Nama finden sich auf der Kampagnenseite: genocide-namibia.net
Seit Ende Mai läuft auf change.org die Petition »Reparationen für Völkermord an Ovaherero & Nama für die Opfer NICHT für die Regierung!«

Das Gespräch führte Nils Becker