Kinder für die Nazi-Elite

geschrieben von Dorothee Schmitz-Köster

3. Juli 2021

Die SS-Organisation »Lebensborn«: Ziele, Strategie und Folgen

Das Gerücht hält sich hartnäckig. Bis heute assoziieren die meisten Menschen, die mit dem Begriff »Lebensborn« etwas anfangen können: »Zuchtanstalt der Nazis« oder »Edelbordell für die SS«. Dabei gibt es längst eine Vielzahl von Untersuchungen und Publikationen, die klarmachen, was der Lebensborn wirklich war. Keine Zuchtanstalt, kein Edelbordell, sondern ein »Rasse«projekt, initiiert, kontrolliert und protegiert von Heinrich Himmler, dem »Reichsführer SS«.

Mit dem 1935 gegründeten »Lebensborn e. V.« sollte die »arische Rasse« gestärkt, vermehrt, vergrößert werden. Schließlich, so Himmlers Logik, wurde Führungspersonal gebraucht, vor allem für die eroberten Länder im Osten. Für den entsprechenden Nachwuchs sollte einerseits die SS (die sich als »rassische Elite« verstand) sorgen und andererseits der Lebensborn.

SS-intern redete Himmler Klartext, er erließ sogar Befehle, die zur Kinderzeugung aufforderten. Fürs »einfache Volk« waren subtilere Strategien nötig. Mit der Eröffnung von Entbindungs- und Kinderheimen (in Deutschland, später in Österreich, Norwegen, Belgien, Luxemburg und Frankreich) präsentierte sich der Lebensborn als karitative Organisation. Die bot schwangeren Frauen, vor allem ledigen Schwangeren, die Möglichkeit, unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit ihr Baby zur Welt zu bringen. Zwar nutzten auch Ehefrauen die gute Versorgung in den Heimen, die Mehrheit der werdenden Mütter war aber nicht verheiratet und brauchte Unterstützung. Schließlich galt die ledige Mutterschaft damals als »Schande«, zerstörte Partnerschaften und Familien und kostete manchmal sogar den Arbeitsplatz. Vielen Frauen erschien ein (verbotener) Schwangerschaftsabbruch als Ausweg. Mit einem anderen Modell trat der Lebensborn dagegen an: Seine Entbindungsheime lagen weit ab vom Schuss, die Frauen konnten kommen, bevor der Babybauch zu sehen war, es gab ein eigenes Meldeamt und Deckadressen, ein eigenes Standesamt, die Erzeuger blieben auf Wunsch geheim. Es gab Jobs für Frauen mit passenden Berufen, die Kinder konnten lange im Heim bleiben, später an Pflegeeltern vermittelt werden.

Dorothee Schmitz-Köster: Raubkind: Von der SS nach Deutschland Verschleppt. Herder Verlag, Freiburg 2018, 269 Seiten, 22 Euro

Dorothee Schmitz-Köster: Raubkind: Von der SS nach Deutschland Verschleppt. Herder Verlag, Freiburg 2018, 269 Seiten, 22 Euro

Aber der Lebensborn war keine karitative Organisation. Sein »Angebot« stand nur solchen Frauen zur Verfügung, die seine Aufnahmekriterien erfüllten. Die werdenden Mütter mussten »arisch«, gesund und »erbgesund« sein – und den Kindesvater benennen. Denn der musste dieselben Voraussetzungen erfüllen. Mit anderen Worten: Eine Frau mit jüdischen Wurzeln oder einer Herzkrankheit oder einem behinderten Vorfahren bekam keinen Platz in einem Lebensborn-Heim. Da konnte ihre Not noch so groß sein. Und wenn eine Frau ein krankes oder behindertes Baby zur Welt brachte, wurden Mutter und Kind vor die Tür gesetzt. Im schlimmsten Fall landete der kleine Mensch in einer Mordanstalt.

Für die Lebensborn-Kinder hatte und hat die Geheimhaltung fatale Folgen. Nicht nur, dass viele jahrzehntelang nicht ahnten, wo sie auf die Welt gekommen sind und welche Pläne man mit ihnen hatte. Viele wussten oder wissen bis heute auch nicht, wer ihr Vater ist, weil ihre Geburtsurkunden seinen Namen aussparen. Und das ist nicht alles: Die Vaterschaftsakten sind verschwunden – und viele Mütter haben geschwiegen. Manchmal so eisern, dass sie den Namen, den sie und der Lebensborn ja kannten, mit ins Grab genommen haben. Im Schweigen der Mütter – so die bittere Wahrheit – hat die Geheimhaltung des Lebensborn ihre Fortsetzung gefunden.

Zwischen 1936 und 1945 wurden 7.000 bis 8.000 Kinder in einem der deutschen Heime geboren. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges und der Er-oberung halb Europas dehnte der Lebensborn seine Aktivitäten über die Reichsgrenzen hinaus aus. Vor allem in Norwegen eröffnete er Entbindungsheime für einheimische Frauen, die von einem deutschen Besatzer ein Baby erwarteten. Etwa 1.200 Norwegerinnen brachten dort ihr Kind zur Welt, insgesamt wurden etwa 8.000 Schwangerschaften registriert. Nach dem Krieg hatten es die »Deutschenkinder« schwer. Als Nachwuchs von Frauen, die mit dem »Feind« ins Bett gegangen waren, wurden sie verachtet, drangsaliert, ausgestoßen.

Auch in den osteuropäischen Ländern zeugten deutsche Männer Kinder mit einheimischen Frauen, aber an denen war die Besatzungsmacht nicht interessiert. Stattdessen nahm sie das »versprengte gute Blut« in den Blick, das Himmler im »Völkerbrei des Ostens« zu erkennen glaubte. Kinder, die »arisch« anmuteten und auf die man leicht Zugriff hatte (Heim- und Pflegekinder, Kinder von ledigen Frauen oder von Oppositionellen), wurden einkassiert, in Heime gesteckt und dort »umerzogen«. Sie mussten deutsch sprechen, bekamen deutsche Namen, falsche Papiere und wurden nach Deutschland verfrachtet. In Heimen oder bei Pflegeeltern sollten sie »gute Deutsche« werden. Der Lebensborn, erfahren in Identitätsfälschung und Pflegeelternbeschaffung, machte dabei eifrig mit. 1947 standen vier Funktionäre deshalb vor dem Nürnberger Gerichtshof. Verurteilt wurden sie allerdings nicht. Es war den vier Angeklagten gelungen, den Lebensborn als karitative Organisation darzustellen.

Etwa 20.000 polnische Mädchen und Jungen wurden zwischen 1942 und 1945 »eingedeutscht«. Einer von ihnen ist Klaus B., der erst mit 75 Jahren erfahren hat, dass er aus Polen stammt, dass er seiner Familie entrissen und nach Deutschland gebracht wurde, dass seine Mutter und sein Großvater ihn nach dem Krieg gesucht haben. Von seiner Geschichte und von der schwierigen Recherche erzählt auch das Buch unserer Autorin.

Dorothee Schmitz-Köster: Raubkind: Von der SS nach Deutschland verschleppt. Herder Verlag, Freiburg 2018, 269 Seiten, 22 Euro