Ein guter Anfang

9. September 2021

Interview mit Hajdi Barz zum Antiziganismus-Bericht

antifa: Im Juni wurde der Bericht der »Unabhängi-gen Kommission Antiziganismus« dem Bundestag vorgestellt. Die Kommission hat aus 15 Studien -Em-
pfehlungen für die Politik erarbeitet. Was ist das besondere an dem Gremium, welche Rolle hattest du?

Hajdi: Besonders ist, dass überhaupt was passiert, um in größerem Rahmen die Diskriminierung von Sinti*zze und Rom*nja zu analysieren und konkrete Handlungsempfehlungen zu geben. Neu ist auch, dass an dem elfköpfigen Gremium Personen aus der Community selbst beteiligt waren. An der Analyse und der Interpretation beteiligt zu sein, ist schon mal ein wichtiger Schritt. Und auch der Inhalt der Studien ist besonders: Die Kombination aus Befragung von Betroffenen nach ihren subjektiven und kollektiven Rassismuserfahrungen und der Analyse der Strukturen und Verwaltungsvorgänge dahinter ist sehr selten. Ich selbst habe die Studie zu Empowerment, also zur Selbstermächtigung der Communitys in Deutschland koordiniert. Die dafür nötige Erfassung der rund 80 Selbstorganisationen gab es vorher noch nicht. Auffällig dabei sind zwei Ergebnisse. Zum einen arbeitet der überwiegende Teil im Bereich der sozialen Arbeit – also da, wo eigentlich der Sozialstaat präsent sein sollte, helfen die Selbstorganisationen meist ohne finanzielle Unterstützung nach. Zum anderen beschäftigt sich rund die Hälfte damit, erst einmal die Rahmenbedingungen für Selbstermächtigung herzustellen, und machen klassische Lobbyarbeit, beraten Parteien, Verbände, Bildungseinrichtungen und bieten beispielsweise Rassismus-Workshops für die Dominanzgesellschaft an. Alles wichtige Bereiche, aber eben kein klassisches Empowerment, im Sinne des Aufbaus und der Pflege von Gemeinschaften, die sich selbstbewusst in der Gesellschaft repräsentieren können und sich auf eine positive Identität durch die eigene Geschichte, Sprache usw. berufen. Wir haben in der Studie festgestellt, dass Empowerment ein sehr weites Feld ist und nicht nur bedeutet, sich gegenseitig Machtchancen zu eröffnen: Bildungsabschlüsse, Jobs, Einfluss usw.

antifa: Romani Rose vom Zentralrat der Sinti und Roma erklärte zu den Empfehlungen: »Im Gegensatz zur Bekämpfung des Antisemitismus muss die Arbeit hier geradezu bei null beginnen.« Strukturen zur Bekämpfung, zur Thematisierung und Bearbeitung sind schlicht nicht vorhanden. Wo setzt das RomaniPhen-Archiv an?

Hajdi Barz ist Bildungsreferentin und bei RomaniPhen aktiv; inirromnja.com Foto: privat

Hajdi Barz ist Bildungsreferentin und bei RomaniPhen aktiv; inirromnja.com
Foto: privat

Hajdi: Wir machen feministische und rassismuskritische Bildungsarbeit, vor allem für die Community selbst. Wir wollen die Sichtbarkeit von Romnij-Frauen in der Gesellschaft erhöhen. Dafür erstellen wir Materialien, machen Jugend- bzw. eher Mädchenarbeit und auch Geschichtsarbeit. Gerade untersuchen wir in einem Projekt die Geschichte der Versklavung von Rom*nja in Rumänien und stellen dabei die Frauen in den Vordergrund unserer Recherche. Wir haben uns aber auch viel mit Didaktik beschäftigt und dabei Handlungsempfehlungen zur Vermeidung von Rassismus in Schulbüchern entwickelt. Insofern füllen wir feministische und rassismuskritische Mehrfachlücken.

antifa: Die Aktivistin Nadine Mena Michollek hat im Migazin die geringe mediale Resonanz des Antiziganismus-Berichts bemängelt und mit der Gleichgültigkeit gegenüber dem Mord an dem Rom Stanislav Tomáš in Teplice (Tschechien) in der gleichen Woche Anfang Juli verglichen. Was sind die Gründe für die Stille?

Hajdi: Wer arbeitet denn in den Medien? Darunter sind ganz wenige Rom*nja und Sinti*zze. Das wäre nicht so dramatisch, wenn sich nur nicht der Rest der Gesellschaft so wenig für die eigenen Ausgrenzungsmechanismen interessieren würde. Die Grundlage für das Fortbestehen von Rassismus gegen Sinti*zze und Rom*nja ist die Bagatellisierung und Negierung des Problems. Und diese Respektlosigkeit den Betroffenen gegenüber finden wir eben auch in den Medien wieder. Das mündet dann auch im fehlenden politischen Willen, da tatsächlich ranzugehen.

antifa: Sigmount Königsberg, der Berliner Antisemitismusbeauftragte, geht davon aus, dass der Bericht in der Schublade des Innenministeriums verschwinden wird, so wie es mit dem ersten Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus 2011 passierte. Was wird übrigbleiben von den Empfehlungen der Kommission?

Hajdi: Lass es uns positiv betrachten. Was kommen wird, ist der Antiziganismus-Beauftragte. Das ist einfach, und es ist auch ein Beweis für Tatkraft. Die Wahrheitskommission, die die Diskriminierung nach 1945 aufarbeiten und für nachholende Gerechtigkeit sorgen soll, wird wohl nicht kommen. Aber, die aufgestellten Forderungen und Analysen sind eine gute Grundlage für uns, um in den nächsten Jahren Politik zu machen. Zentral ist sicherlich die Forderung nach einem Abschiebestopp in die Westbalkanregion, die sich direkt an den Auftraggeber der Kommission, das Bundesinnenministerium richtet. Aber viele unserer Empfehlungen beziehen sich auf die Kommunen und Bundesländer. Wir werden sehen, was wir davon lokal umsetzen können und wer dabei unsere Partner*innen sein werden.

In dem 500 Seiten dicken Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus wird eindrücklich dargestellt, dass einerseits der Alltag für Sinti*zze und Rom*nja in Deutschland durch Rassismus geprägt ist und andererseits, dass dem kaum staatliches Handeln entgegengesetzt wird. Der Bericht spricht vom Versagen der Politik, der Verwaltung, der Bildungseinrichtungen, aber auch von diskriminierender Gesetzgebung und Rechtsanwendung. In 17 Kapiteln werden neben einem Bundesbeauftragten, einer Bund-Länder-Kommission und einer Wahrheitskommission, viele kleinteilige Maßnahmen empfohlen

Zum Nachlesen:

»Perspektivwechsel – Nachholende Gerechtigkeit – Partizipation« Download: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/303/1930310.pdf

Das Gespräch führte Nils Becker