Meine liebe Esther …

9. September 2021

In Gedenken an Esther Bejarano

… nun hast Du uns verlassen … Wir dachten doch, Du würdest mindestens hundert Jahre alt, so voller Pläne und Zukunftswünsche, aber voller Sorgen um unser Land. Seit sechzig Jahren, als Du mit Nissim, Edna und Joram nach Deutschland kamst, warst Du, wart Ihr Teil meiner Freundes-Familie, und so viele Erinnerungen verbinden uns mit Dir!

Esther Bejarano Foto: Josef A. Preiselbauer

Esther Bejarano
Foto: Josef A. Preiselbauer

Weißt Du noch die Diskussionen mit Euch Israel-Heimkehrern, die waren ja so spannend, gerade für einen jungen Menschen. Lautstark waren sie und leidenschaftlich, schon damals. Meinungen prallten da aufeinander, aber hallo! Und so kritisch die Heimkehrer waren, vor dem Satz: »Du hast ja keine Ahnung, du warst nie im Land!« mussten alle Argumente verstummen. Als Kind fand ich das ganz wunderbar und saß staunend dabei: Menschen schreien sich an, und hinterher fallen sie sich in die Arme. In dieser Zeit, durch Eure Gespräche, durch Eure Erlebnisse, durch Eure gemeinsame Traurigkeit und Eure Fröhlichkeit habe ich begriffen, was Freunde füreinander sein können.

Esther, Du hast Menschen zusammengebracht und Freundschaften gestiftet bei Deinen berühmten Gartenfesten und bei Deinen Geburtstagsfeiern – wunderbar!

Nie vergesse ich den Augenblick, als mein Vater und ich vollkommen verzweifelt in der Wohnung saßen und um meine Mutter trauerten, als es an der Tür klingelte und Du, Anita und Elsa kamen, um bei uns zu sein.

Und dann, als Du die neuen Naziumtriebe voller Angst am eigenen Leibe erlebtest und Du beschlossest, nicht mehr zu schweigen, trotz der immer wiederkehrenden nächtlichen Alpträume. Als Deine mahnende und erinnernde Stimme immer lauter und kräftiger wurde und junge Menschen und Menschen meines Alters von Deinen Erzählungen tief berührt wurden und Du ihnen Vorbild wurdest. Heute erreichen mich viele tröstende Anrufe von Freunden, denen Du so viel gegeben hast und die niemals die Begegnung mit Dir vergessen werden.

Vor wenigen Jahren wurdest Du Ehrenbürgerin Deiner Heimatstadt Saarlouis (Hamburg, Deine Wahlheimat, sah sich, aus politischen Gründen, dazu nicht in der Lage …). Du fühltest Dich so krank und schwach, als Du hinfuhrst. Du brauchtest so nötig eine Erholungspause. Aber dann! Als wir uns im Begegnungscafé für die Naziverfolgten trafen, hättest Du Deine strahlenden Augen sehen müssen. Originalton Esther: »Also, das hättet ihr erleben sollen! Nach der Verleihung saßen wir mit dem Bürgermeister der Stadt zusammen. Und was macht der? Er fängt an zu singen! ›Avanti popolo, alla riscossa!‹ Sogar mit der letzten Zeile: ›Evviva il comunismo e la libertà!‹ Vor allen Leuten!« Tja, Esther, wozu Du die Menschen hingerissen hast, das macht Dir so schnell keiner nach!

Zu Deinem Geburtstag, den wir »dank« Corona nicht gemeinsam feiern konnten, stellte Dein Verleger Karl-Heinz Dellwo ein dickes Buch zusammen, mit all den Glückwünschen und guten Wünschen Deiner vielen, vielen Freunde. Du hast Dich so darüber gefreut!

Noch am 10. Juni saßen wir, die »Mädels« bei Dir auf der Terrasse, waren fröhlich und aßen, was wir mitgebracht hatten. Voller Begeisterung zeigtest Du mir Dein neues großes Tablet: »Hör mal, dieser Klang! Gestern habe ich mir Beethovens Fünfte angehört!« Als wir nach vier Stunden gehen wollten, sagtest Du: »Wie, ihr wollt schon gehen?« Alles schien so normal … Und dann, am nächsten Tag stürztest, Du und Dein verantwortungsvoller Arzt und Freund wollte Deinem schweren Husten auf den Grund gehen und schickte Dich ins Krankenhaus. Doris, die Dich bis zuletzt umsorgte, stellte eine Freundinnen-Truppe zusammen, die Dich nach der Entlassung bekochen und betreuen sollte. Doch daraus wurde nichts mehr … Ein Bett wurde ins Zimmer gestellt, so dass Du auch bei Nacht nicht allein warst.

Am Ende saßen wir bei Dir, Deine Familie sang für Dich, und Du schienst das zu spüren. Bis zum Schluss warst Du umringt von Menschen, die Dich lieben und diese Liebe nie vergessen werden.

Wenn Du wüsstest, wie sehr Du fehlst! Die Zeitungen sind voll von traurigen und dankbaren Worten all derer, die Dich kennenlernen durften. Esther, Du bist ganz tief in unseren Herzen!

Norma van der Walde

Die Autorin ist Tochter einer von den Nazis verfolgten und nach England geflüchteten Familie, die mit Esther Bejarano befreundet war. Norma ist Mitglied der VVN-BdA und der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hamburg

Stimmen zum Tod von Esther Bejarano (unvollständig)

Bundesweit wurde verschiedentlich an Esther gedacht, hier mit einem Plakat in Hamburg Foto: Twitter

Bundesweit wurde verschiedentlich an Esther gedacht, hier mit einem Plakat in Hamburg
Foto: Twitter

»Wir trauern gemeinsam mit ihrer Familie um diese großartige, mutige und unerschütterliche Frau, Überlebende der Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück, Antifaschistin, Vorsitzende des Auschwitz-Komitees und Ehrenpräsidentin der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, Sängerin, Zeugin der Zeit.«

Auschwitz-Komitee und Esthers Familie

»Solange sie da war, waren wir nicht allein, jetzt haben wir eine treue Freundin verloren.«

            Peggy Parnass, Holocaust-Überlebende, Autorin,
Schauspielerin und Freundin Esthers

»Esthers Augen, der offene Blick ihrer liebevoll wachsamen Augen – Perspektive, leidvoll gewonnen, widerständig und in Zuversicht weitergegeben, wie mit ihren Liedern, ihrer wunderbaren Stimme: ›Mir lebn ejbig – wir leben trotzdem.‹«

            Rolf Becker, Schauspieler und Freund

»Die Arbeit mit Jugendlichen in ihren Musikprojekten lag ihr daher ganz besonders am Herzen. Die entschlossene Mahnerin gegen Rassismus und für die Menschenrechte war uns Sinti und Roma eng verbunden, und mit ihrem Tod ist wieder eine Stimme derer verstummt, die Zeugnis ablegen können von dem unvorstellbaren Leid, das Sinti und Roma, Juden und andere in der Zeit des Nationalsozialismus ertragen mussten.«

            Romani Rose,
Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma

»Esther Bejarano wurde zum Symbol, zur Lehrerin für uns alle, entschlossen für das Leben zu kämpfen.«

            Shlomo Bistritzky, Landesrabbiner in Hamburg

Bejarano hat ihr Leben »dem Kampf gegen den Faschismus und gegen das Vergessen gewidmet«. Sie hat mit ihrem Einsatz »Mut gemacht und Stärke gegeben«. »Sie ist ein Vorbild für uns, und ihr Lebensweg bleibt uns ein Auftrag«.            Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow,

            Parteivorsitzende Die Linke

»Wir verlieren mit ihr eine mutige Persönlichkeit, die sich bis zuletzt für die Verfolgten des Naziregimes eingesetzt hat. (…) Wer sie je in ihrem musikalischen Element erlebt hat, wird sich immer daran erinnern: So mitreißend war sie!«

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD)

»Wir trauern um Esther Bejarano. (…) Als Zeitzeugin verstand sie es vor allem auch, mit der Jugend über die Nazidiktatur und den Holocaust ins Gespräch zu kommen – und begleitete junge Gewerkschafter*innen bei Fahrten nach Auschwitz. Ihre Botschaft an die jungen Menschen: ›Ihr tragt keine Schuld für das, was passiert ist, aber ihr macht euch schuldig, wenn es euch nicht interessiert.‹«

            IG Metall

»Für die Lagergemeinschaft Dachau war Esther Bejaranos aktives Leben für eine bessere, gerechte Welt, ohne Antisemitismus, ohne Rassismus, ohne Krieg immer so klar, dass sie uns und viele andere Menschen damit stärkte.«

            Ernst Grube, Präsident der Lagergemeinschaft Dachau, und Vizepräsident Jürgen Müller-Hohagen

Pressestimmen (unvollständige Auswahl)

»Die Kondolenzen klangen ehrlich. Und zugleich befremdlich, bedenkt man, wie hierzulande mit Antifaschist*innen wie Bejarano umgegangen wurde und wird. (…) Von der Aktivistin Bejarano war in den offiziellen Beileidsbekundungen wenig zu lesen. Auch nicht davon, dass sie eine überzeugte Kommunistin war, die immer wieder Ärger mit jenen hatte, die vorgeben, die Verfassung zu schützen. (…) Bejarano hat recht: Beim Antifaschismus darf man sich nicht auf den Staat verlassen.«           Der Freitag

»Es war leicht, sie zu mögen: ihr Lachen, ihre Musik, ihren Humor, ihren Kampf gegen das Vergessen, ihre Neugierde, noch im hohen Alter Rap zu probieren, ihr phänomenales Gedächtnis. Eine Schoa-Überlebende, die das Leben offensiv umarmte und liebte, so jemanden mögen die Leute im Land der Täter. Esther Bejarano ließ sich fein einfügen in die Passepartouts der Generationen und Weltanschauungen«.           Jüdische Allgemeine

»Unvergesslich ist Esther Bejaranos Auftritt im selbstverwalteten Jugendzentrum Freiraum in Dachau. Das war im Jahr 2013. Sie las aus ihrem soeben auf Deutsch erschienenen Buch ›Vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Rap-Band gegen rechts‹. Danach stand sie mit Kutlu Yurtseven und Pennino Rossi von der Kölner Hiphop-Band Microphone Mafia auf der Bühne. Bei ihren Auftritten war auch immer ihr Sohn Joram dabei. Bejarano sang deutsch, hebräisch, jiddisch. Wer der humorvollen und schlagfertigen Dame begegnen durfte, schätzte sich glücklich.«
Süddeutsche Zeitung

»Wir haben nie gezählt, wie viele Schulen du besucht hast, wie viele Konzerte du gabst. Die Kraft, die dich antrieb, war dein Gedanke an all jene, die von den Nazis ermordet wurden. Du hättest niemals damit aufgehört. (…) Noch an deinem 95. Geburtstag hast du Tango getanzt und gesungen. Mit 96 Jahren hast du noch einen Streit mit der Hansestadt Hamburg vom Zaun gebrochen, du wolltest nicht, dass eine Degussa-Tochter – die direkt von der Zwangsarbeit der KZ-Häftlinge profitiert hat – in dasselbe Gebäude wie eine Gedenkstätte einzieht, die an die Deportationen vom ›Hannoverschen Bahnhof‹ erinnert.«        junge Welt

Titel MoPo»Es schien so, als würde dieser Frau nie die Kraft ausgehen. Obwohl hochbetagt hat sie bis zuletzt lautstark Stellung bezogen gegen Rassismus, gegen die Gefahr von rechts. Noch bis vor wenigen Monaten ist sie sogar regelmäßig auf Tournee gewesen mit ihrer Rap-Band ›Microphone Mafia‹ und hat Musik gemacht – Musik gegen Intoleranz und gegen das Vergessen.«            Hamburger Morgenpost

»Lange schwieg sie dazu, was ihr in Auschwitz, in der NS-Zeit, angetan wurde. Als sie auch in der Bundesrepublik von Nazis beschimpft wird, bricht sie ihr Schweigen. Wird politisch aktiv. Die Musik ist ihr Schlüssel zu den Menschen. Zusammen mit ihren Kindern gründete sie Anfang der 1980er Jahre die Gruppe Coincidence, die jüdische und antifaschistische Lieder interpretiert.«            taz

»Bei all ihrem Erleben war Esther Bejarano immer eine fröhliche, lebensbejahende Frau geblieben. Gerade nach Auschwitz müsse man, müsse sie weiter Musik machen. Keinen Millimeter den Mördern und Hetzern des Nationalsozialismus und nun auch den Neo-Nazis nachzugeben, gerade die jungen Menschen darüber aufzuklären, das machte sie sich zur Aufgabe. So zog sie durch Schulen, hielt Vorträge und gab Konzerte. Zuletzt mit der Mikrofon-Mafia, einer Rapper Truppe, mit der sie vor allem die Jugend erreichen wollte.«        »zdf heute« via zdf.de

»Ihre klare, aufrechte, mutige Stimme wird gerade diesem Land bitter fehlen.«       nd – Der Tag

»Bejarano engagierte sich Jahrzehnte lang gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, wofür sie zahlreiche Auszeichnungen erhielt. (…) In einem tagesschau.de-Interview beklagte Bejarano im vergangenen Jahr, die Zahl der Nazis in Deutschland nehme wieder zu. Sie verwies unter anderem auf die Parteien AfD und NPD. ›Die wollen keine Demokratie‹, sagte Bejarano. ›Ich weiß nicht, was werden soll, wenn es noch mehr werden, die so eine menschenverachtende Ideologie haben. Ich weiß nur, was ich gesehen habe. Und ich weiß, was dann kommen wird.‹«
»tagesschau«, via ard.de

»Ganz so schlimm scheint es also um die verfassungsfeindlichen Bestrebungen des VVN-BdA nicht bestellt gewesen zu sein. Im Ergebnis jedenfalls hat der Senat Esther Bejarano dennoch die höchste Auszeichnung, die die Stadt vergibt, die Ehrenbürgerwürde, versagt. Andere hatten weniger Bedenken: Saarlouis, wo Bejarano 1924 zur Welt kam, verlieh ihr 2014 das Ehrenbürgerrecht.«                  Hamburger Abendblatt