Von Anfang an erzählen

9. September 2021

Leserbrief von Marie-Louise Hänsel

Der Rostocker Puschkinplatz ist seit über sieben Jahrzehnten ein besonderer Begegnungsort (…). Es ist ein Ehrenfriedhof, auf dem 312 noch in den letzten Kriegstagen gefallene sowjetische Soldaten und sechs Offiziere sowie 397 Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter ihre letzte Ruhestätte fanden. (…)

Am 22. Juni 2021, dem 80. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion, fand auf dem Puschkinplatz eine bewegende und in Erinnerung bleibende Gedenkkundgebung statt, die von dem Liedermacher Tino Eisbrenner musikalisch begleitet wurde. Rostocks Bürgerschaftspräsidentin Regine Lück (Die Linke) erinnerte in ihrer Rede an die grausamen Verbrechen, die die Deutsche Wehrmacht an den sowjetischen Menschen beging. Dr. Cornelia Nenz, stellvertretende Vorsitzende des Heimatverbandes Mecklenburg-Vorpommern sprach hier das erste Mal. Sie widmete sich besonders den schändlichen Verbrechen der Nazis an den sowjetischen Kriegsgefangenen. Sie berichtete aus dem Erleben ihres Vaters, Dr. Friedrich Lettow, der 1933 als Arzt vielen gefährdeten Menschen dazu verhalf, noch rechtzeitig über die tschechische Grenze zu fliehen. Er wurde verraten und saß von 1935 an bis zur Befreiung in KZs. Er war in Buchenwald, Natzweiler, Sachsenhausen und Bergen-Belsen. Mit bewegenden Worten berichtete Dr. Nenz: »Im Jahr 1941 war mein Vater im Konzentrationslager Buchenwald. In seinem Buch ›Arzt in der Hölle‹ schildert er, wie nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion die ersten sowjetischen Kriegsgefangenen ins Lager gebracht wurden und wie ausgehungert sie waren. Es dauerte nicht lange, bis sich die Nazis besonders perfide Ermordungspraktiken ausdachten: Sie ließen die sowjetischen Offiziere und sogenannte Kommissare zur angeblichen Größenbestimmung an eine Messlatte treten, an der alles so vorbereitet war, dass sie dort einen genau platzierten Genickschuss empfingen. An der Wand waren viele Lagen Papier angebracht; spritzte das Blut, dann wurde eine Lage abgerissen. Auf dem Boden waren Rillen, verstopfte das Blut die Rillen, mussten andere Häftlinge das Blut beseitigen«. Angesichts dieser Verbrechen sprach sie von einem Skandal, dass weder Bundestag noch Bundesregierung bereit waren, des 80. Jahrestages des Überfalls auf die Sowjetunion in angemessener Form zu gedenken. Einzig der Bundespräsident sprach im Deutsch-Russischen Museum in Berlin-Karlshorst. Dr. Cornelia Nenz warnte vor Geschichtsklitterung, den 2. Weltkrieg erst von dem Tag an zu erzählen, als die Sowjetarmee in die deutschen Städte kam, also in das Ursprungsland des Krieges zurückkam. »Geschichte darf nicht halb, sondern muss von Anfang an erzählt werden. Als Warnung und Mahnung für unsere Nachkommen«, sagte sie.

Marie-Louise Hänsel