Ein »Aushandlungsprozess«

geschrieben von Thomas Willms

6. November 2021

Münchner NS-Dokumentationszentrum widmet sich Format »Zeitzeugengespräch«

Das Münchner NS-Dokumentationszentrum setzt sich aktuell in einer überschaubaren Ausstellung mit dem Format des »Zeitzeugengesprächs« auseinander. Schwerpunktmäßig mit der audiovisuellen Dokumentation der Gespräche. Mit einer naiven bis sakral angehauchten Haltung gegenüber Zeitzeugenberichten wird erfolgreich aufgeräumt. Sie sind »gemachte Sachen«, wie die Ausstellungsmacher*innen eingangs schreiben. Damit ist gemeint, dass sie in konkreten historischen Situationen entstanden sind, welche wie bei anderen Quellen auch für ihre Interpretation herangezogen werden müssen. Richtig »populär« wurden sie recht spät. Das Gros wurde erst infolge des Spielfilms »Schindlers Liste« in den 1990er Jahren aufgenommen, dessen Gewinn in die Finanzierung des riesigen »Visual History Archive« (siehe vha.fu-berlin.de) geflossen ist.

Zu einem Zeitzeugengespräch gehören grundsätzlich mindestens zwei Akteure – die im Vordergrund stehende Person, die über Vergangenes berichtet, und die meist nicht sichtbare fragende oder aufnehmende Person. Beide Seiten gehen mit bestimmten Interessen und Zielen in die Bild- und Tonaufnahme, die in der Regel kein Gespräch im eigentlichen Sinne ist. Die Ausstellung spricht hier vom »Aushandlungsprozess« zwischen den Interviewpartnern. Das ist arg optimistisch formuliert, denn man spürt oft genug eher ein Ringen und den Versuch, der anderen Seite etwas aufzudrücken.

Ausstellungsansicht.  Foto: NS-Dokumentationszentrum München, Connolly Weber

Ausstellungsansicht.
Foto: NS-Dokumentationszentrum München, Connolly Weber

Wie hoch der Beeinflussungsgrad ist, erkennt man am besten an uns bereits sehr fern liegenden Aufnahmen. Ein Beispiel: In einer US-amerikanischen Familien-Fernsehshow aus den 1950er Jahren wird eine Überlebende des KZ Mauthausen interviewt. Für das Gespräch ist vom Sender offenbar eine bestimmte und eher knappe Zeitspanne und Choreografie vorgesehen. Der Frau gelingt es nicht, die erwarteten und wohl auch schon vorher festgelegten »Highlights« richtig rüberzubringen, so dass der Interviewer kurzerhand selbst vorträgt, dass sie bei ihrer Befreiung durch drei US-Soldaten nur noch 33 Kilogramm gewogen habe. Einer ihrer Befreier wartet derweil hinter der Bühne und wird abschließend hervorgezaubert. Es kommt zu einem (wirklich berührenden) Wiedersehen, der Saal klatscht, das Happyend ist erfolgreich organisiert und die U.S. Army steht als moralisch hervorragende Organisation von Rettern da. Das Übergriffige dieser fast 70 Jahre zurückliegenden Szene ist offensichtlich, und man fragt sich unbehaglich, welche ideologischen Vorgaben es bei jüngeren Produktionen gegeben hat, die sich nicht so leicht erkennen lassen.

Umgekehrt gingen auch Zeitzeug*innen alles andere als naiv an die Dokumentation heran, insbesondere nicht, wenn es sich um »geübte« Interviewpartner*innen handelte. Grundsätzlich entschieden sie darüber, was sie von ihren Erlebnissen berichteten und was nicht, bzw. welche Facetten betont und welche verschwiegen wurden. Ein Interview kurz nach der Befreiung war etwas ganz anderes als eines in den 1990er Jahren, eines in Israel etwas anderes als eines in der DDR. Die Interessen konnten sowohl politische sein als auch ganz persönliche. Manchen fiel es unermesslich schwer, Auskunft zu geben/zu reden, andere nutzten es unumwunden als Therapiemöglichkeit

Die Ausstellung hält für diejenigen, die einige der gezeigten Zeitzeug*innen kannten oder kennen, noch eine weitere Ebene bereit. Man kann zusehen, wie die anderen Besucher*innen zum Beispiel auf den in der VVN-BdA unvergessenen Martin Löwenberg (siehe Beitrag aus antifa Mai/Juni 2018 unter kurzelinks.de/loewenberg) reagieren. Man ist versucht, einzugreifen und zu erklären, dass die präsentierten drei Minuten keineswegs den ganzen Menschen zeigen, den wir doch so gern gehabt haben. Aber nichts da. Für die anderen ist Löwenberg eben nur einer von vielen, der mit einem ganz bestimmten Aspekt eines Interviews gezeigt wird.

Ganz verstörend wird es dann mit Ernst Grube (siehe Porträt bei der VVN-BdA Augsburg unter kurzelinks.de/ernstgrube), der in einer eigens angefertigten dreidimensionalen Virtual-Reality-Installation gezeigt wird. »Bitte nehmen Sie die Brille ab«, hieß es seitens der Ausstellungsmitarbeiterin. Stattdessen bekam man einen Helm auf, starrte in eine verschwommene Drei-D-Szenerie und fragte sich, was Menschen aus nichteuropäischen Kulturkreisen von diesen Dingen überhaupt halten.

Ende der Zeitzeugenschaft?
NS-Dokumentationszentrum München, Max-Mannheimer-Platz 1, bis zum 14. November, Eintritt frei.