»Keine Probleme einzelner«

6. November 2021

Jörg Reichel im antifa-Gespräch zu Angriffen auf Demonstrationen gegenüber Journalist:innen

antifa: Immer wieder dokumentierst du als Gewerkschafter Fälle von körperlicher Gewalt gegenüber Journalist:innen. Was brachte dich persönlich zu diesem Engagement?

Jörg Reichel: Letztlich das Aufkommen der Corona-Proteste im Frühjahr 2020. Die Kolleg:innen, insbesondere Pressefotograf:innen, haben sich bei uns gemeldet und beklagt, dass man auf der Straße nicht mehr arbeiten kann. Dann haben wir sie verstärkt begleitet und versucht, die Situation zu analysieren, Übergriffe zu dokumentieren und Gegenstrategien zu entwickeln. Es war eine Zeit, in der im Grunde pro Woche in Berlin zwei, drei Demos und Aktionen der Querdenker stattgefunden haben. Uns war relativ schnell klar, dass die Übergriffe keine Probleme einzelner, sondern vieler sind.

antifa: Wovon gehen deiner Meinung nach hierzulande derzeit die größten Gefahren aus, um eine freie Berichterstattung zu unterbinden?

Jörg Reichel: Die Arbeit der Presse wird bundesweit momentan noch bei Corona-Protesten am stärksten behindert. Das hat zuletzt zwar abgenommen, aber man kann bundesweit feststellen, dass es weiterhin körperliche Angriffe und Behinderung von Berichterstattung aus diesem Spektrum gibt. Zum zweiten sehen wir vielfach eine Gefahr durch Polizeigewalt und die Behinderung der Pressearbeit durch die Beamt:innen. Das ist auch ein bundesweites und strukturelles Problem. In der Stadt und auf dem Land, ob in München, Berlin, Dortmund, Dresden oder Leipzig, überall ist das feststellbar.

antifa: Wie ist euer Vorgehen, wenn ihr Zeug:innen von Übergriffen auf Pressevertreter:innen werdet oder sich Betroffene an euch wenden?

Jörg Reichel: Wir versuchen erst mal zu ergründen, was ist wann, wo, wie passiert. Wir gehen in die Öffentlichkeit, wenn die betroffene Person damit einverstanden ist. Dann versuchen wir, Unterstützung zu organisieren. Innerhalb von
ver.di, wenn die Betroffenen Mitglieder sind. Es gibt aber auch das Europäische Zentrum für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF), mit dem wir zusammenarbeiten.

antifa: Du musstest selbst mehrfach Angriffe beispielsweise aus dem Spektrum von »Querdenken«-Demonstrant:innen auf dich erleben und hast dich dennoch entschieden, weiterzumachen. Was können Journalist:innen gemeinsam tun, um sich vor solchen Attacken gut zu schützen?

Jörg Reichel: Nie allein arbeiten, Bodycams anschaffen und sich bei Angriffen wehren können. Es verändert sich seit circa anderthalb Jahren erfreulicherweise die öffentliche Wahrnehmung, und uns ist es gelungen, auch zusammen mit anderen Gewerkschaften wie DJV oder Freelens, einiges zu verändern und das Thema Pressefreiheit stärker ins öffentliche Bewusstsein zu tragen. Das war auch für mich der Antrieb nach dem Angriff am 1. August weiterzumachen.

antifa: Mitunter wird sich insbesondere im Lokaljournalismus, und wenn es an Pressevielfalt fehlt, ohne journalistische Distanz bei Polizeipressemeldungen bedient. Andere oder polizeikritische Quellen fallen häufig unter den Tisch. Vielfach sind es ausschließlich sogenannte soziale Medien, die dann Informationen über Polizeigewalt bereithalten. Wieviel Druck kann damit aufgebaut werden, und zeigt die Thematisierung gewisse Erfolge?

Jörg Reichel: Also Druck entsteht dadurch definitiv. Innerhalb einzelner Polizeipräsidien in großen Städten hat beispielsweise schon ein Veränderungsprozess begonnen. Wir reden hier nur über kleinere Veränderungen, aber es gibt einen öffentlichen Druck, und dieser wirkt auch hinein in die Polizei. Dies passiert nicht von heute auf morgen, wir haben also noch einen sehr langen Weg vor uns.

Zu den Polizeireporter:innen: Das ist ein schwieriges Ressort, überall, in allen Medienhäusern, weil da seitens der Chefredaktionen meistens wenig Liebe und Geld hineingesteckt wird. Die Polizeireporter:innen sind Tag und Nacht auf der Straße, aber auch immer wieder Opfer von Behinderungen ihrer Pressearbeit seitens der Polizei. Nach meiner Wahrnehmung gibt es innerhalb der ein oder anderen Redaktion eine Diskussion darüber, ob man zum platten Abschreiben von Polizeimeldungen auf Distanz gehen muss. Insbesondere seitdem die Polizei mit Polizeigewalt, Rechtsradikalismus und Sexismus selbst in den Schlagzeilen steht.

antifa: Und was wären  kurzfristige Maßnahmen zur Eindämmung von Polizeigewalt?

Jörg Reichel: »Zum einem Schwerpunktstaatsanwaltschaften, die auch gegen Polizeibeamt:innen ermitteln. Wichtig wären auch unabhängige Beschwerdestellen zu polizeilichem Handeln und mehr wissenschaftliche Forschung zu Polizeikultur und Rassismus, Misogynie, Antisemitismus und rechtem sowie autoritärem Denken innerhalb der Polizei. Die Polizei wird sich innerhalb ihrer Polizeikultur und ihren Strategien nicht durch Gerichtsurteile verändern. Dazu braucht es gesellschaftlichen, öffentlichen Druck und Diskussionen. Eine Strategie könnte sein, an besonders vielen Stellen öffentliche Diskussionen und Forschungen einzufordern, diese zu diskutieren und Reformen zu verlangen. Wir müssen autoritäre Cop Culture bekämpfen und eine externe unabhängige demokratische Kontrolle der Polizei einfordern. So wie es ist, kann es nicht bleiben!«

Jörg Reichel ist Landesgeschäftsführer der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (DJU) in ver.di Berlin-Brandenburg.

Das Gespräch führte Andreas Siegmund-Schultze