Vorrang für nationale Identität

geschrieben von Holger Politt

6. November 2021

Bemerkungen zum aktuellen europapolitischen Streit in Polen

In kaum einem anderen Land ist die Zustimmung zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union so hoch wie in Polen. Deutlich über 80 Prozent der Befragten sprechen sich regelmäßig für die Zugehörigkeit zur EU aus. Allerdings gibt es unter den Befürwortern einen beträchtlichen Teil, nämlich ein knappes Drittel, der ein »Europa souveräner Vaterländer« mit weniger politischer Integration und rechtlichen Gemeinschaftsverpflichtungen bevorzugen würde. Dieser Teil macht den Kern in der Wählerschaft des nationalkonservativen Regierungslagers aus, das von Jarosław Kaczyński geführt wird.

In der Phase von Sturm und Drang der Jahre 2015 bis 2018 wurde direkt und ungeschminkt gefordert, dass eine neue Verfassung durchgesetzt gehöre, weil die geltende von 1997 dem Land keinen genügenden Schutz vor den Zumutungen aus Brüssel geben könne. Die Menschen hätten damals, als sie in einem Referendum für die Annahme der Verfassung stimmten, noch gar nicht gewusst, welchen Druck eine EU-Mitgliedschaft auf nationale Identität und Souveränität ausüben könne, nämlich dann, wenn nicht genügend Sicherheitsvorkehrungen eingezogen seien. Die alten EU-Mitgliedsländer seien diesbezüglich sehr viel besser gerüstet, neue Mitglieder wie Polen aber müssten nun schnell nachholen, was zuvor blauäugig versäumt worden sei. Und natürlich wurde nicht vergessen, auf die wirtschaftlichen Ungleichgewichte zu verweisen, im polnischen Fall also vor allem auf die gegenüber dem westlichen Nachbarn Deutschland.

Augenfällig wurde diese Konstellation, als auf den Straßen und Plätzen im Lande die Menschen gegen die Regierungspolitik unter EU-Fahnen protestierten, indessen in den Ministerien und sonstigen Regierungsgebäuden das EU-Tuch klammheimlich verschwand, die polnischen Nationalfarben den Anspruch auf Souveränität und Identität demonstrativ herauszustellen hatten. Und Andrzej Duda, der seit 2015 amtierende Staatspräsident, setzte dem Selbstverständnis im Regierungslager die berühmte Krone auf, als er meinte, die EU sei nur eine imaginäre Gemeinschaft, gegen die sich dann ein fest- und wohlgefügtes nationales Gemeinwesen abzuheben habe.

Warschau, Oktober 2021: »Wir -bleiben! PiS-Exit, macht es selbst!«.  Foto: Holger Politt

Warschau, Oktober 2021: »Wir -bleiben! PiS-Exit, macht es selbst!«.
Foto: Holger Politt

Nachdem wegen der Mehrheitsverhältnisse alle Pläne gescheitert waren, eine neue Verfassung durchzusetzen, setzte Kaczyński auf eine andere Strategie. Zu den Europa-Wahlen 2019 wurde plötzlich im Regierungslager das EU-Blau entdeckt, allerdings mit dem gewichtigen Zusatz, dass Polen nun das »Herz Europas« sei. Wenn man so will, dann hatte er handstreichartig versucht, der Opposition die bevorzugte Waffe, das klare und eindeutige EU-Bekenntnis, mit hintergründiger Absicht zu stibitzen. Auch wenn das Wahlergebnis in Polen für die Regierenden durchaus erfreulich gewesen war, erlitten sie andererseits mit der Voraussage, dass nach den Wahlen auch EU-Europa endlich anders, also nationalkonservativer werde, eine Niederlage.

Seitdem rudert das Regierungslager in der EU-Frage kaum zurück, vielmehr bleibt es trotzig bei den eigenen Positionen – jedenfalls zu Hause. Hier soll erfolgreich demonstriert werden, wie ein Europa der Zukunft vorstellbar sei. Mit Hilfe des unter die eigene Kontrolle gebrachten Verfassungstribunals wurde nun Anfang Oktober 2021 höchstrichterlich erklärt, dass EU-Recht immer dann zurückzutreten habe, wenn es dem polnischen Verfassungsrecht widerspreche. Damit wurde allerdings ein Tor weit aufgestoßen zu denjenigen Kräften noch weiter rechts vom Regierungslager, die aus Demokratie- und EU-Feindschaft gar keinen Hehl mehr machen, außerdem wurde im gewünschten Sinne noch einmal bestätigt, wo die imaginäre Gemeinschaft zu suchen sei und wo nicht.

In einer ersten heftigen Protestwelle kurz nach dem Urteilsspruch machten die Menschen in Polen den Regierenden allerdings schnell klar, wie die Mehrheitsverhältnisse bezüglich der EU-Mitgliedschaft in Polen sind. Eine entschiedene Mehrheit ist strikt gegen jedes politische Spielen mit der EU-Mitgliedschaft. Das Kaczyński-Lager erhielt die Quittung: Wir bleiben! Tretet selber aus, wenn ihr es wollt!

Die Fronten in Polen bleiben übersichtlich: Jetzt wissen alle, dass es bei den kommenden Parlamentswahlen in zwei Jahren auch um die EU-Mitgliedschaft gehen wird. Womöglich, so viele Beobachter, hat sich das Kaczyński-Lager mit dem Urteil über den Geltungsbereich des EU-Rechts in Polen einen Bärendienst erwiesen. Die Entscheidung im Verfassungstribunal zeugt weniger von Stärke, vielmehr ist es wohl Ausdruck nicht zu übersehender Ratlosigkeit im Regierungslager.

Holger Politt ist Leiter des Büros Warschau der Rosa-Luxemburg-Stiftung.