Schneller aus dem Dienst entfernen

geschrieben von Lothar Letsche

7. Januar 2022

Berufsverbote: antifa-Spezial 50 Jahre nach der Verabschiedung des »Radikalenerlasses«

»Um die Integrität des Öffentlichen Dienstes sicherzustellen«, heißt es im neuen Ampel-Koalitionsvertrag, »werden wir dafür sorgen, dass Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem Dienst entfernt werden können.« Unter »Innere Sicherheit« wird präzisiert: »Die in anderen Bereichen bewährte Sicherheitsüberprüfung von Bewerberinnen und Bewerbern weiten wir aus und stärken so die Resilienz der Sicherheitsbehörden gegen demokratiefeindliche Einflüsse.« Resilienz, die »Fähigkeit, Krisen zu bewältigen« (Wikipedia). Welche »Krisen« aufgrund welcher »Einflüsse«? Der Koalitionsvertrag nennt »Rechtsextremismus, Islamismus, Verschwörungsideologien und Linksextremismus«.

Also der plumpe Cocktail jener »Extremismustheorie«, der das offiziell verkündete Feindbild der »Sicherheitsbehörden« bestimmt. Dem »Verfassungsschutz« spricht die neue Regierungskoalition ihr volles Vertrauen aus. Ausgerechnet diesem Geheimdienst, dessen Konstrukte jüngst die Gemeinnützigkeit der VVN-BdA bedrohten, war und bleibt die Definitionsmacht übertragen, was »Verfassungsfeinde« und »demokratiefeindliche Einflüsse« sein sollen.

Wie geschichtsvergessen kann man sein?

»Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst« wurden schon vor 50 Jahren am 28. Januar 1972 beschlossen – von Bundeskanzler Willy Brandt und den Ministerpräsidenten der damaligen westdeutschen Länder, zum Beispiel Hans Filbinger aus Baden-Württemberg. Aber das richtete sich nicht etwa gegen die NPD, die damals mit knapp zehn Prozent der Wählerstimmen im dortigen Landtag saß. Vielmehr hatten sich die ersten versuchten Dienstentfernungen 1971 in Hamburg ereignet. Betroffen war als eine der ersten die Tochter des Widerstandskämpfers Franz Jacob, der als Mitglied der operativen Landesleitung der KPD 1944 von den Nazis hingerichtet worden war. Unter den Vorwürfen gegen Ilse Jacob war – ja, im sozialdemokratisch regierten Hamburg – ihr Engagement für die VVN-BdA aufgeführt. Es gab einen Sturm von Protesten.

Der »Bundesarbeitsausschuss der Initiativen gegen Berufsverbote und für die Verteidigung der demokratischen Grundrechte« plant zum 50. Jahrestag des »Radikalenerlasses« einen Delega-tionsbesuch in Berlin zwischen dem 26. und 28. Januar 2022. Geplant ist unter anderem eine Pressekonferenz sowie die Übergabe von Unterschriften an die Bundesinnenministerin Nancy Faeser der neuen SPD-/Grüne-/FDP-Koalition. Unterschriften sind noch bis Mitte Januar auf berufsverbote.de gern gesehen.

Wie es dann weiterging, formulierte der Niedersächsische Landtag in einem am 16. Dezember 2016 mit den Stimmen von SPD und Grünen gefassten Beschluss so: »Insbesondere mithilfe der ›Regelanfrage‹ wurden bundesweit etwa 3,5 Millionen Bewerberinnen und Bewerber von den Einstellungsbehörden auf ihre politische ›Zuverlässigkeit‹ durchleuchtet. Diese Behörden erhielten ihre ›Erkenntnisse‹ insbesondere vom ›Verfassungsschutz‹, welcher in dieser Zeit insgesamt 35.000 Dossiers über politisch Andersdenkende fertigte. In der Folge des ›Radikalenerlasses‹ kam es in der damaligen Bundesrepublik zu 11.000 offiziellen Berufsverbotsverfahren, 2.200 Disziplinarverfahren, 1.250 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen (…) Zur Abwehr angeblicher Verfassungsfeinde sollten ›Personen, die nicht die Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten‹ aus dem öffentlichen Dienst ferngehalten bzw. entlassen werden. Formell richtete sich der Erlass gegen ›Links- und Rechtsextremisten‹, in der Praxis traf er aber vor allem politisch Aktive des linken Spektrums: Mitglieder kommunistischer, sozialistischer und anderer linker Gruppierungen, bis hin zu Friedensinitiativen. Den Betroffenen wurden fast ausnahmslos legale politische Aktivitäten, wie die Kandidatur bei Wahlen, die Teilnahme an Demonstrationen oder das Mitunterzeichnen politischer Erklärungen vorgeworfen.

Der ›Radikalenerlass‹ führte bundesweit zum faktischen Berufsverbot für Tausende von Menschen, die als Lehrerinnen und Lehrer, in der Sozialarbeit, als (…) Briefträger, (…) Lokomotivführer oder in der Rechtspflege tätig waren oder sich auf solche Berufe vorbereiteten und bewarben.

Voraussichtlich am 17. Mai soll ebenfalls in Berlin eine inhatliche und musikalische Veranstaltung anlässlich des 50. Jahrestags der Verabschiedung des Radikalenerlasses nachgeholt werden, die Ende Januar aufgrund der pandemischen Lage nicht stattfinden kann. Angekündigt haben sich bisher Herta Däubler-Gmelin und Vertreter:innen von Gewerkschaften sowie Betroffene der Berufsverbote. Musik soll es von »Die Grenzgänger« und »ewo2« geben. Weitere Infos dazu finden sich zu gegebener Zeit auch auf www.berufsverbote.de

Systemkritische und missliebige Organisationen und Personen wurden an den Rand der Legalität gedrängt, die Ausübung von Grundrechten wie der Meinungs-, Organisations- und Versammlungsfreiheit wurde behindert, bedroht und bestraft. Bis weit in die 1980er Jahre vergiftete die Jagd auf vermeintliche ›Radikale‹ das politische Klima. Statt Zivilcourage und politisches Engagement zu fördern, wurden Duckmäusertum erzeugt und Einschüchterung praktiziert.

Während das Bundesverfassungsgericht keinen Verfassungsverstoß feststellte, wurde die Praxis der Berufsverbote vom Europäischen Gerichtshof [für Menschenrechte, L. L.] und weiteren internationalen Institutionen als völker- und menschenrechtswidrig verurteilt. (…) Betroffen war vor allem der Schuldienst, als in den 1970er und 1980er Jahren Bewerberinnen und Bewerber nicht eingestellt und Lehrkräfte entlassen wurden. Viele Betroffene mussten sich nach zermürbenden und jahrelangen Prozessen beruflich anderweitig orientieren.«

Der Landtag bedauerte ausdrücklich dieses »unrühmliche Kapitel in der Geschichte Niedersachsens«, richtete eine Aufarbeitungskommission ein und hielt unter anderem fest, »dass politisch motivierte Berufsverbote, Bespitzelungen und Verdächtigungen nie wieder Instrumente des demokratischen Rechtsstaates sein dürfen«. Er sprach den Betroffenen »Respekt und Anerkennung« aus und bedankte sich ausdrücklich bei denen, »die sich, z. B. in Initiativen gegen Radikalenerlass und Berufsverbote, mit großem Engagement für demokratische Prinzipien eingesetzt haben«. Außen vor blieb eine materielle Entschädigung, die die Betroffenen und der DGB auch gefordert hatten.

Manche der seinerzeit betroffenen Berufsgruppen gehören schon lange nicht mehr zum »öffentlichen Dienst«. Bundesbahn und Bundespost sind »privatisiert«. Die Justiz und Polizei, Schulen und Hochschulen sind bzw. unterstehen Landesbehörden. Um dort »Sicherheitsüberprüfungen« »ausweiten« und »schneller als bisher« »Dienstentfernungen« durchführen zu können, müssten die Länder nachziehen. Beispielsweise aus Brandenburg gibt es entsprechende Absichtserklärungen und Planungen. Bayern verwendet bis heute bei jeder Einstellung seitenlange Organisationsfragebögen zur Selbstbezichtigung; beleidigend schon durch die Gleichsetzungen, die dort vorgenommen werden. Doch Niedersachsen müsste seinen vor fünf Jahren gefassten Beschluss, von solchen Praktiken endgültig Abstand zu nehmen, praktisch wieder aufheben. Ebenso Bremen (2012), Hamburg (2018) und Berlin (2021), deren Landesparlamente in die gleiche Richtung gehende Beschlüsse fassten.

Es geht keineswegs nur um Beschäftigte mit Beamtenstatus. Aufgrund entsprechender Klauseln in Tarifverträgen waren auch Tarifbeschäftigte (»Angestellte«) immer wieder von Einstellungsverweigerungen und Kündigungsversuchen betroffen.

Solidarität und Völkerrecht

Dass die »Regelanfrage« abgeschafft wurde, die Berufsverbote im Westen ab 1990 heruntergefahren wurden (mit einzelnen Rückfällen), ist nicht zuletzt ein Ergebnis der Solidarität und des Völkerrechts. Neben den erwähnten Initiativen trug die VVN-BdA mit ihren vielfältigen internationalen Kontakten (FIR) dazu bei, dass die Berufsverbotspraxis im europäischen Ausland bekannt wurde, von dort Proteste kamen, 1976 eine internationale Kundgebung vor dem EU-Parlament in Strasbourg stattfand. Der Weltgewerkschaftsbund, dem die CGT Frankreichs und der FDGB der DDR angehörten, veranlasste ein Untersuchungsverfahren der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wegen Verstößen gegen das Diskriminierungsverbot, also eine der Kernnormen des Arbeitsrechts. Es endete 1987 mit einer Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland. Bis 2000 musste die Bundesregierung alljährlich Bericht erstatten, was zur Behebung der festgestellten Verstöße getan wurde. Das Diskriminierungsverbot ist seit 2000 auch in einer EU-Richtlinie enthalten, die seit 2006 in Form des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) in nationales Recht umgesetzt ist. EU-Recht und EU-Rechtsprechung haben Vorrang vor dem nationalen Recht. Das mag man nicht gut finden, aber es ist so. Darüber sollte Deutschland nicht anderen Ländern wie Polen Lektionen erteilen, sondern sich selbst daran halten.

Lothar Letsche bekam im Zuge der Durchführung des »Radikalenerlasses« 1977 Ausbildungsverbot als Lehrer in Baden-Württemberg und musste sich 1981 und 2003 als wissenschaftlicher Angestellter gegen Kündigungsversuche einer vom Staat finanzierten Forschungseinrichtung wehren. Er betreibt heute die Website berufsverbote.de und ist Mitglied des Geschäftsführenden Landesvorstands der VVN-BdA Baden-Württemberg

Überlebende des Naziterorrs – einige in der Kleidung, die sie in den Konzentrationslagern tragen mussten – demonstrierten am 23. Oktober 1975 in Bonn gegen Berufsverbote. Aufgerufen hatte die VVN.  Foto: Klaus Rose

Überlebende des Naziterorrs – einige in der Kleidung, die sie in den Konzentrationslagern tragen mussten – demonstrierten am 23. Oktober 1975 in Bonn gegen Berufsverbote. Aufgerufen hatte die VVN.
Foto: Klaus Rose

Gedankenspiele wie im Koalitionsvertrag könnten sich also als juristisch unhaltbar erweisen, weil oder »auch wenn die bundesdeutsche Justiz seinerzeit bei den Berufsverboten gegen Antifaschist/inn/en und Linke eklatant versagt hat. Diese Betroffenen hat die [bundesdeutsche] Justiz seinerzeit in der Regel nicht vor Diskriminierung geschützt. Heute wird sie absehbar auch im Beruf die Neonazis schützen, so wie sie das bei fast jeder ihrer Zusammenrottungen tut, wenn z. B. Stadtverwaltungen diese zu verhindern suchen und die Polizei dann die protestierenden Antifaschist/inn/en fernhält, einkesselt und zuweilen auch verprügelt.« (Entschließung der VVN-BdA Baden-Württemberg)

Der Hamburger Rechtsanwalt Klaus Dammann (2020 verstorben), der das Versagen der bundesdeutschen Justiz bei den Berufsverboten detailliert belegte, forderte etwas ganz anderes: ein Bundesgesetz zur Bereinigung der 1995 höchstrichterlich festgestellten Verstöße gegen Artikel 10 und 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Es sollte für die Länder eine Standardisierung und ein Minimum der Entschädigung festlegen, alle einschlägigen Erlasse, Entscheidungen und Gerichtsurteile aufheben, den Umgang mit den Akten regeln »den Betroffenen ein(en) volle(n) Schadensersatz im Wege der Folgenbeseitigung unter Einschluss des Berufsschadens sowie (…) vollen Ausgleich etwaiger erlittener Renten- bzw. Pensionsnachteile« gewähren.

Ampelkoalition kündigt »Entfernung von Verfassungsfeinden aus dem Öffentlichen Dienst« an.

Wir, Betroffene der Berufsverbotspolitik in der Folge des Radikalenerlasses von 1972, haben mit Entsetzen zur Kenntnis genommen, dass im Koalitionsvertrag der neuen Ampelkoalition Passagen enthalten sind, die eine Wiederbelebung eben dieser Berufsverbotepolitik befürchten lassen.

So heißt es gleich zu Beginn des Koalitionspapiers wörtlich: »Um die Integrität des Öffentlichen Dienstes sicherzustellen, werden wir dafür sorgen, dass Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem Dienst entfernt werden können.« (»Verwaltungsmodernisierung«)

»Sei keine Duckmaus« war jahrelang das Erkennungszeichen der bundesweiten Initiative »Weg mit den Berufsverboten«, die in der früheren Bundesrepublik überregional Unterstützung fand. Das »Duckmaus«-Logo entwarf der Kunsterzieher und Bildhauer Rolf Rohrbacher-Laskowski aus Bühl/Baden.

»Sei keine Duckmaus« war jahrelang das Erkennungszeichen der bundesweiten Initiative »Weg mit den Berufsverboten«, die in der früheren Bundesrepublik überregional Unterstützung fand. Das »Duckmaus«-Logo entwarf der Kunsterzieher und Bildhauer Rolf Rohrbacher-Laskowski aus Bühl/Baden.

Und später wird unter der Rubrik »Innere Sicherheit« präzisiert: »Die in anderen Bereichen bewährte Sicherheitsüberprüfung von Bewerberinnen und Bewerbern weiten wir aus und stärken so die Resilienz der Sicherheitsbehörden gegen demokratiefeindliche Einflüsse.« (»Bundespolizeien«)

Es wird ehrlicherweise nicht einmal der Versuch unternommen, diese Maßnahme mit den tatsächlich bedrohlichen rechten Unterwanderungsversuchen von Polizei und Bundeswehr zu begründen. Stattdessen werden in plumpster extremismustheoretischer Manier »Rechtsextremismus, Islamismus, Verschwörungsideologien und Linksextremismus« (»Kampf gegen Extremismus«) gleichgesetzt. Den Nachrichtendiensten – damit auch dem sogenannten »Verfassungsschutz« spricht die neue Regierung allen rechten Skandalen zum Trotz ihr vollstes Vertrauen aus.

Aus eigener bitterer Erfahrung wissen wir, dass eine solche Politik allein den Rechten in die Hände spielt.

Im Januar 2022 jährt sich der unter Bundeskanzler Willy Brandt verabschiedete Radikalenerlass. Er hat nicht nur Tausende von Linken diffamiert, ausgegrenzt und ihre Lebensperspektiven zerstört, sondern vor allem die gerade erst im Wachsen begriffene demokratische Kultur dieses Landes schwer beschädigt. Rechte blieben von der damaligen Hexenjagd so gut wie vollständig verschont.

Wir sind fassungslos und schockiert, dass die neue Bundesregierung nicht nur weiter die Augen vor diesem jahrzehntelangen staatlichen Unrecht verschließt, sondern sich anschickt, dieselben Fehler zu wiederholen. Wie damals wird der rechtlich völlig unbestimmte Begriff »Verfassungsfeind« verwendet. Ausgerechnet der tief in die rechte Szene verstrickte Inlandsgeheimdienst soll vorschlagen dürfen, wer als »Verfassungsfeind« angesehen und entsprechend behandelt werden soll. Dies kommt einem Suizid der Demokratie und des Rechtsstaates gleich.

Anlässlich des 50. Jahrestages des Radikalenerlasses fordern wir nicht nur die Rehabilitierung und Entschädigung der Betroffenen, wir wenden uns auch entschieden dagegen, erneut die Prüfung politischer Gesinnungen anstatt konkreter Handlungen zur Einstellungsvoraussetzung im Öffentlichen Dienst zu machen. Grundgesetz und Strafrecht würden schon heute vollkommen ausreichen, rechte Netzwerke in Polizei, Militär und Justiz zu bekämpfen. Bedauerlicherweise wird davon nur sehr selten Gebrauch gemacht. Der Kampf gegen rechte Demokratiefeinde bleibt in erster Linie eine gesellschaftliche Aufgabe.

Klaus Lipps (Sprecher), 26.11.2021