Alle können mitanpacken

8. März 2022

Interview zur Lage an den europäischen Außengrenzen

antifa: Weiterhin flüchten hunderttausende Menschen pro Jahr nach Europa. Sie kommen überwiegend aus den Kriegs- und Krisenregionen Afghanistan, Syrien und aus den kurdischen Gebieten im Irak und in Nordsyrien. Ein Zielland ist Deutschland. In den letzten Monaten hat sich die Situation an der Grenze zwischen Polen und Belarus zugespitzt. Warum?

Miriam Tödter: Wir erleben eine starke Ausweitung der illegalen Rückführungen (sogenannte Pushbacks, Red.) durch die europäischen Staaten. Ob nun Polen, Ungarn, Kroatien oder Griechenland. Alle machen das, und mittlerweile mit großer Brutalität. Deshalb verschieben sich ständig die Routen über die die Menschen nach Europa kommen, um hier Asyl zu beantragen. Die halbwegs sicheren Routen über den Balkan haben lange funktioniert. Nachdem der Grenzschutz mit europäischer Hilfe aber ausgebaut wurde, kam das zentrale Mittelmeer als Fluchtroute ins Spiel. Die Folgen waren katastrophal, wie wir alle wissen. Eine Zeit lang ging es aus der Türkei über die Ägais nach Griechenland. Seit Herbst versuchen Menschen verstärkt, über Belarus in die EU zu kommen, und schlagen sich von Minsk aus durch den Białowieża-Wald, den letzten Urwald Europas, nach Polen durch. Während die südeuropäischen Staaten lange gebraucht haben, um die Grenzen zu schließen, hat Polen sehr schnell gehandelt und schon im Oktober ein Gesetz verabschiedet, das die Abweisung von Geflüchteten an der Grenze legalisiert. Aktuell ist es kälter geworden, und es kommen immer weniger Menschen, aber es sind immer noch viele, die in dem Gebiet ausharren und darauf hoffen, ihren Weg nach Europa fortsetzen zu können.

antifa: Aufgrund des Konflikts mit Belarus sind viele der etablierten Hilfsorganisationen wie Rotes Kreuz, UNHCR, IOM oder die Caritas in dem Gebiet kaum präsent. Was wird durch euch und andere Organisationen unternommen, um die Situation der Geflüchteten zu verbessern?

Miriam Tödter Anfang Februar im polnischen Grenzgebiet. Sie ist im Vorstand des gemeinnützigen Vereins Wir packen’s an e. V. – Nothilfe für Geflüchtete. Der Verein wurde 2020 gegründet und hat 180 Mitglieder. wir-packens-an.info

Miriam Tödter Anfang Februar im polnischen Grenzgebiet. Sie ist im Vorstand des gemeinnützigen Vereins Wir packen’s an e. V. – Nothilfe für Geflüchtete. Der Verein wurde 2020 gegründet und hat 180 Mitglieder. wir-packens-an.info

Miriam Tödter: Wir sammeln hier Sachspenden und fahren regelmäßig zu unseren Partnerorganisationen in das Grenzgebiet. Aktuell geht es viel um Winterbekleidung, Ausrüstung, Powerbanks, Handys und Lebensmittel. Die polnische Zivilbevölkerung tut viel, um zu unterstützen, aber die Sperrzone hat vieles verkompliziert. Die Stimmung vor Ort ist vergleichbar mit der in Sachsen. Die Bedrohungen durch Geflüchtete werden hervorgehoben, viele wünschen sich einen noch rigoroseren Grenzschutz, und trotzdem engagieren sich auch viele, um die größte Not zu lindern. Gleichzeitig gibt es eine große Ökobewegung, die den Schutz des Urwaldes auf die Agenda gesetzt hat. Hier treffen sich Flüchtlingsschutz und Umweltschutz. Wir wurden in diesem Netzwerk herzlich aufgenommen.

Wir kommen ja aus Brandenburg und wollen unsere Mitmenschen für diese humanitäre Katastrophe vor unserer Haustür mobilisieren. Ein Vehikel dafür sind die Sachspenden. Das ist niedrigschwellig, leuchtet vielen ein und ist eine Möglichkeit, um ins Gespräch zu kommen. Alle können mitanpacken, egal ob sie viel Geld, Zeit oder andere Ressourcen haben. Das einfache Konzept hat uns große Medienöffentlichkeit eingebracht und dafür gesorgt, dass uns Journalist*innen auf unseren Reisen begleiteten. Unsere regionale Verankerung in Kombination mit guter Öffentlichkeitsarbeit hat unfassbare Spenden generiert, die wir nicht allein an der polnisch-belarussischen Grenze benötigen. So können wir Partnerorganisationen beispielsweise in Bosnien oder auf Lesbos direkt unterstützen.

antifa: Nur wenige deutsche Politi-ker-*innen, überwiegend der Linken, haben sich selbst vor Ort ein Bild gemacht. Bundesinnenministerin Faeser, SPD, kritisierte Polen zwar dafür, dass Hilfsorganisa-tionen nicht ihre Arbeit machen können, aber nicht für die illegalen Abweisungen. Beim EU-Gipfel Anfang Februar trat sie zusammen mit (dem französischen Präsidenten) Emmanuel Macron für eine Schengen-Reform ein, die verstärkte Grenzkontrollen vorsieht. Welche Rolle spielt die neue Bundesregierung für eine humanere Flüchtlingspolitik?

Miriam Tödter: Bisher habe ich wenig davon mitbekommen. Ich höre zwar die Reden von rechtsstaatlichen und menschlichen Lösungen. Außenministerin Annalena Baerbock sprach gar von Aufnahmebereitschaft. Auf der anderen Seite hat das Bundesamt für Flüchtlinge und Migration, BAMF, im letzten Jahr überdurchschnittlich viele Asylanträge nicht beschieden. Offenbar wird da noch abgewartet. Wir wissen nicht wie viel Ampel schon in der Politik steckt und wie viel einfach der Apparat vorgibt. Die Probleme in Polen liegen auf dem Tisch: Die Pushbacks müssen aufhören, das Aussperren der Hilfsorganisationen sowieso, und diejenigen, die es in die EU geschafft haben, dürfen nicht weiter in polnische Lager gesperrt werden. Dafür sollte sich die deutsche Politik einsetzen und klare Zusagen an die Transitländer machen.

Das Gespräch führte Nils Becker

Durch den Überfall Russlands auf die Ukraine verschlimmert sich die Situation an den europäischen Außengrenzen erneut auf drastische Weise. Hier sind einige Unterstützungsmöglichkeiten, die u.a. am 27.2. im Rahmen eines Youtube-Gesprächs von »Wann strahlst Du?« (youtube.com/watch?v=Yz4_6F-AV4o) genannt wurden: – Geldspenden an Unterstützende in Grenznähe zur Ukraine bspw. aus Polen, Slowakei, Ungarn, Rumänien, damit diese Lebensmittel und andere Güter kaufen und Bedürftigen im Kriegsgebiet zukommen lassen. Transporte werden bspw. über die Telegramgruppe t.me/+XHrjC1uX9ZVjYjZi koordiniert – Im Rahmen lokaler Projekte Unterstützung für Geflüchtete, die es nach Deutschland geschafft haben