Auf der Suche nach Erfolg

geschrieben von Ulrich Peters

8. März 2022

»Spazierengehen« am Montag? Blick auf eine verschwörungsideologische Bewegung

Bei den mehrheitlich an Montagen stattfindenden verschwörungsideologischen »Spaziergängen« handelt es sich nicht, wie oft behauptet, um Proteste einer bürgerlichen Mitte, die mit den Pandemieschutzmaßnahmen unzufrieden ist. Nach dem Ausbleiben überregionaler Mobilisierungserfolge zeigt sich vielmehr ein Strategiewechsel der Pandemieleugner*innenszene, mit dem es gelungen ist, jenen breiten Teil der Gesellschaft, der für Verschwörungsideologien anfällig ist, auf die Straße zu bringen.

Ausbleibender Erfolg

Mit Beginn des Jahres 2021 gingen in vielen Ländern Europas, in den USA und Kanada, aber auch Australien immer wieder Zehntausende Impfgegner*innen, Esoteriker*innen, religiöse Fundamentalist*innen, Verschwörungsgläubige und organisierte Neonazis auf die Straße, um vordergründig gegen staatliche Schutzmaßnahmen vor dem Hintergrund der Pandemie zu protestieren. Diese zum Teil gewaltsam verlaufenden Demonstrationen lösten in der verschwörungsideologischen Szene eine gewisse Euphorie aus. Erneut sah man die eigene Bewegung wachsen und die »Corona-Diktatur« am Ende. Doch in Deutschland scheiterte bereits der erste Versuch, an die großen Versammlungen des Jahres 2020 anzuknüpfen. Zwar lieferten sich in Berlin zum Jahrestag der »Querdenken«-Proteste am 1. August 2021 etwa 5.000 Menschen ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei, doch konnten auch die in Teilen dynamischen Proteste im Stadtgebiet nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mobilisierung ein Misserfolg war. Endgültige Ernüchterung setzte spätestens nach der Bundestagswahl im September 2021 ein. Die aus den Pandemieleugner*innenprotesten entstandene verschwörungsesoterische Partei »Die Basis« wollte mit einem materialintensiven Wahlkampf aus dem Stand heraus in den Bundestag einziehen und bekam am Ende lediglich 1,4 Prozent der Stimmen. Dieser Bewusstwerdung realpolitischer Bedeutungslosigkeit folgte der Rückzug bundesweit relevanter Akteur*innen sowie eine Verdichtung des Protestmilieus auf einen beständig mobilisierbaren Kern, der aber nur noch wenig Außenwirkung entfalten konnte.

Regionalisierung der Proteste

Antifaschistischer Protest mit VVNBdA- Beteiligung im Februar gegen Pandemieverharmloser*innen in Berlin-Neukölln. Foto: privat

Antifaschistischer Protest mit VVNBdA-
Beteiligung im Februar gegen
Pandemieverharmloser*innen in
Berlin-Neukölln. Foto: privat

Im November 2021 wurden aufgrund steigender Inzidenzwerte die Corona-Schutzverordnungen der Länder angepasst, und u. a. in Sachsen durften Versammlungen nur noch ortsfest mit maximal zehn Teilnehmenden durchgeführt werden. Um diese Auflagen zu umgehen, wurde zu unangemeldeten »Spaziergängen« aufgerufen. Insbesondere die neo­nazistische Partei »Freie Sachsen« griff die damit wieder stärker in den Fokus gerückten Proteste auf. Über Telegram wurden immer wieder Bilder und Videos von scheinbar spontan entstandenen Zusammenkünften, die unbehelligt von der Polizei umherziehen konnten, verbreitet. Den Neonazis ist es damit gelungen, in kurzer Zeit eine landesweit relevante Größe bei der Mobilisierung in Sachsen und bundesweites Vorbild zu werden.

Zeitnah gründeten sich in anderen Bundesländern Zusammenschlüsse, die nicht nur dem Namen nach Bezug nehmen, sondern ähnlich dynamisch wirkende Proteste vor Ort inszenieren wollten. Das Konzept der »Spaziergänge« ermöglichte der verschwörungsideologischen Szene die Überwindung der Stagnation, während die extreme Rechte – mit Blick auf den Erfolg von »Freie Sachsen« – von der Möglichkeit einer lokalen Einflussnahme auf das Protestgeschehen zu profitieren hofft. Ab Januar 2022 kam es dann bundesweit zu meist unangemeldeten Versammlungen, wobei je nach Region unterschiedliche Akteur*innen sichtbar wurden und auch die Rolle extrem rechter und neonazistischer Gruppen variierte. So dominierte etwa die Partei »Der Dritte Weg« mit Transparenten das Bild einzelner Versammlungen in Brandenburg, Bayern und Sachsen-Anhalt, während gewalterfahrene Hooligans zusammen mit organisierten Neonazis »Spaziergänge« auch gegen die Polizei durchsetzen konnten, wie es in Magdeburg oder Rostock zu beobachten war.

Immer wieder anzutreffen sind Mitglieder der AfD sowie Aktivist*innen aus dem Umfeld der »Identitären Bewegung«. In Hamburg konnten NPD-Mitglieder und Personen aus dem Umfeld der Rechtsrockband »Kategorie C« ungestört bei den Protesten von Impfgegner*innen mitmarschieren. In der Mehrheit jedoch waren und sind die Versammlungen geprägt von einem äußerst heterogen erscheinenden Milieu von Teilnehmenden, deren verbindende Elemente Verschwörungsglaube, Wissenschaftsfeindlichkeit und Pandemieleugnung sind. Damit unterscheiden sie sich nicht von dem Erscheinungsbild der Proteste im ersten Pandemiejahr, besitzen jedoch eigene Spezifika.

Lichterkette und Selbstermächtigung

Extrem rechte Akteur*innen waren von Beginn an ein akzeptierter Teil der Proteste von Pandemieleugner*innen, so dass deren Präsenz nicht verwundert. Auf der anderen Seite hat sich verschwörungsideologisches Denken in der ganzen gesellschaftlichen Breite verfestigt und ist mit dem Andauern der Pandemie sichtbarer geworden. Innerhalb dieses Prozesses haben sich Verschwörungsgläubige teilweise so weit radikalisiert, dass die Grenzen zwischen verschiedenen politischen Milieus und rechten Ideologien fließend geworden sind. Es geht nicht mehr nur um ein Virus oder das Impfen, sondern um Umsturzphantasien und Machtdemonstrationen. Die dem verschwörungs­ideologischen Denken immanente Personalisierung von Feindbildern führt verstärkt zu konkreten Bedrohungen von Politiker*innen und den sich formierenden Gegenprotesten, aber auch zu Kundgebungen vor Medien- oder Krankenhäusern. Gleichzeitig nehmen Übergriffe im Alltag auf Menschen zu, die sich für die Einhaltung von Pandemieschutzmaßnahmen einsetzen.

Eine Recherche von Zeit online hat für das Jahr 2021 allein 311 solch gewalttätiger Angriffe dokumentiert. Umso mehr sind die organisierenden Strukturen der verschwörungsideologischen Proteste darum bemüht, einen unpolitischen Schein zu wahren. Diese mitunter absurd anmutenden Aufrufe, »nur als Menschen auf die Straße zu gehen« oder bei einer Demonstration auf jegliche politische Aussage zu verzichten, kulminieren stellenweise in einer Manifestation der Inhaltslosigkeit, hinter der jedoch eine Strategie steckt.

Ein Administrator der Telegram-Gruppe »Freie Berliner« sieht darin die Möglichkeit, »den Widerstand der ›Mitte‹ zu stärken«. Mit der fehlenden politischen Außenwirkung soll alles vermieden werden, »was die wankende Mehrheit hier von der Teilnahme abschreckt«. Gleichzeitig spricht die politische Offenheit auch Menschen an, die sich selbst als unpolitisch bzw. zumindest nicht rechts verstehen würden. Im Vordergrund steht das soziale Event, das Kennenlernen und der gemeinsame Regelübertritt. Das Teilen von Bildern und Videos aus verschiedenen Orten in den einschlägigen Telegram-Kanälen soll den Eindruck einer großen Massenbewegung vermitteln. In den sich selbst bestätigenden Kommunikationskanälen der Szene hat sich entsprechend eine gewisse Euphorie, aber auch Selbsterhöhung breitgemacht, die von der Erwartung getragen wird, dass sich die politischen Ziele mit dem Druck auf der Straße durchsetzen ließen. Doch bereits nach wenigen Wochen hat sich das Mobilisierungspotenzial erschöpft, wenngleich in regionalen Protesthochburgen wie z. B. Saarbrücken und Düsseldorf immer noch Tausende auf die Straße gehen.

Die verschwörungsideologische Szene ist auch 2022 auf der Suche nach Verstetigung der Proteste und probiert dazu unterschiedliche Formate aus. Temporär kann eine gewisse Anschlussfähigkeit erzielt werden. Der Szene fehlt aber immer noch eine weitreichende Perspektive. Konstruiert wird weiterhin ein rein auf Verschwörungsideologien und Egoismus basierendes Weltbild, das nicht offen für Veränderungen ist, keine Gegenargumente zulässt und nur auf die Bestätigung der eigenen Meinung abzielt, ohne gesellschaftliche Herausforderungen zu reflektieren. Legitimiert wird allein das eigene Handeln, die Formulierung eines Wahrheitsanspruchs und die Möglichkeit der Selbstdarstellung. Was diese Proteste nicht bieten, ist ernsthafte Kritik am staatlichen Umgang oder gar eine solidarische Perspektive auf die Pandemie. #

Ulrich Peters ist freier Journalist aus Berlin und Redaktionsmitglied beim Antifaschistischen Infoblatt. Das vierteljährlich erscheinende Heft kann im Abonnement bezogen werden und wird seit 1987 von einem ehrenamtlich arbeitenden Kollektiv erstellt. Die inzwischen vergriffene Ausgabe 133 (Winter 2021) erschien mit dem Schwerpunkt »Pandemieleugner«. Beiträge daraus sind jedoch auf antifainfoblatt.de zu finden. Der Autor veröffentlichte zuletzt gemeinsam mit Larissa Denk und Fabian Kaufmann die Handreichung »… und wer denkt an die Kinder? Instrumentalisierung von Kindern in der Pandemieleugner*innenszene«, die zum kostenlosen Download bereit steht: kurzelinks.de/kinder-instrument.

VVN-BdA und das Bündnis »Aufstehen gegen Rassismus« produzierten in den letzten Monaten allerlei Info­material zu den pandemieverhamlosenden Veranstaltungen, das, wie diese Flyer, in den Webshops geordert werden kann: kurzelinks.de/agr-handinhand sowie kurzelinks.de/vvn-keinspazieren.