In ihrem Wortlaut

geschrieben von Ruby Bender

8. März 2022

Eine Graphic Novel erzählt die Geschichte von Francine R., einer Überlebenden von Ravensbrück

Der Comicautor Boris Golzio verarbeitet in der Graphic Novel die Verfolgten- und Überlebendengeschichte einer Verwandten: Francine R. Das Besondere ist, dass Golzio R.s Geschichte in ihrem Wortlaut erzählt. Textgrundlage ist ein Zeitzeugingespräch. Die Graphic Novel folgt also ihrer Erzählweise, was teilweise bei der Syntax zutage tritt. Es gab keine Anpassungen, um eine (künstliche) Dramaturgie ihrer Geschichte zu schaffen. Der graphische Zeitzeuginbericht beschreibt Francine R.s Tätigkeit in der Résistance, ihre Hafterfahrung in französischen Gefängnissen, den deutschen KZs Ravensbrück und Watenstedt/Leinde sowie ihre Befreiung.

Die Zeichnungen sind in einem historisch-anmutenden Sepiaton1 gehalten. Die Farbwahl erscheint auf den ersten Blick vielleicht einfallslos. Die Geschichte des Nationalsozialismus und dessen Verbrechen werden häufig in Schwarz-Weiß-Bildern präsentiert. Damit erfährt die Nazizeit eine Historisierung. Golzios Graphic Novel nutzt punktuell Farbe, wodurch diese Aspekte eine starke Hervorhebung erfahren. Die erste Farbe findet sich in der Darstellung der verschiedenen Winkel zur Kategorisierung der KZ-Häftlinge. Der nächste Farbtupfer ist bei der Kennzeichnung einer Häftlingskategorie zu sehen: die sogenannten Kriminellen mit einem grünen Dreieck. Golzio stellt hier eine Polin dar, die Blockälteste war. Nach Francine R.s Erinnerung waren insbesondere die Polinnen »die Schlimmsten«, die zumeist den Posten von Funktionshäftlingen eingenommen haben sollen. Die Darstellung dieser Polinnen bedient rassistische Stereotype: »Deren Mentalität war einfach so«.

Wie auch bei historischen Unschärfen stellt Golzio dies überzeugend in einen Kontext, wenngleich er Francine R.s Bemerkung nicht explizit als diskriminierend bemerkt. Er hebt hervor, dass Polinnen zu der Zeit schon länger im Lagersystem gewesen seien und stark darunter gelitten hatten. Außerdem stellt er die These auf, dass diese möglicherweise ihren Groll über fehlende Hilfe Frankreichs während des Überfalls der Deutschen auf Polen 1939 auslebten.

Boris Golzio: Die Geschichte von Francine R. – Widerstand und Deportation April 1944 – Juli 1945. Übersetzung aus dem Französischen: Carsten Hinz. Avant-Verlag, Berlin 2021, 136 Seiten, 24 Euro

Boris Golzio: Die Geschichte von Francine R. – Widerstand und Deportation April 1944 – Juli 1945. Übersetzung aus dem Französischen: Carsten Hinz. Avant-Verlag, Berlin 2021, 136 Seiten, 24 Euro

Der Anspruch einer Einordnung Golzios ist an dieser Stelle wichtig. Trotz des Versuchs einer »getreuen«, lediglich Lücken füllenden Darstellung des von Francine R. Gesagten, schafft Golzio dabei neue Bezugsrahmen. So werden die Polinnen als Blockälteste bzw. Funktionshäftlinge und Teil der Kategorie der »Kriminellen« visualisiert. Erstere Interpretation liegt nahe, da R. sagt: »Die Kapos mochten wir auch nicht, die taugten nichts, die waren meistens auch Polen.« Doch werden hier Details vermischt: Die Bezeichnung Kapo kennzeichnete Häftlinge, die für die SS die Zwangsarbeit anderer Häftlinge anleiten mussten und die für deren Ergebnisse verantwortlich waren. Die Blockältesten verantworteten die Baracken.

In Golzios Zeichnung wirkt es so, als wären insbesondere Polinnen Blockälteste gewesen und zugehörig zur Kategorie der sogenannten Kriminellen. Beides stimmt nicht mit der Erzählung Francine R.s überein. Seine Interpretation ihrer Aussage wird auch dem Leiden der als »kriminell« Inhaftierten nicht gerecht – insbesondere unter Berücksichtigung der Willkür der Zuteilung der Häftlingswinkel: Auch politisch Verfolgte, die bereits mehrere Gefängnisstrafen verbüßen mussten, wurden teilweise als »kriminell« kategorisiert. Darüber hinaus kann keine Tat rechtfertigen, dass Menschen unter solchen Bedingungen leben und sterben müssen.

Der nächste Farbtupfer illustriert Francine R. nach ihrer Befreiung durch das Rote Kreuz, als sie das erste Mal wieder Kleidung aussuchen darf: ein königsblaues Kleid. Zwei weitere Überlebende tragen ein gleiches bzw. ähnliches Kleid in Rot und Weiß. Zu dritt sind sie in den Farben der französischen Nationalfahne gekleidet. Auf den nächsten Seiten wird sowohl R. in ihrem blauen Kleid farblich hervorgehoben als auch die Nationalfahne Frankreichs. Die Résistance kann niemals genug betont werden. Doch trägt die farbliche Hervorhebung der Nationalfahne einen bitteren Beigeschmack bezüglich der französischen Kollabora­tion im Vichy-Frankreich. Die Graphic Novel endet mit der Beerdigung R.s – auch hier wird wieder die Nationalfahne geschwungen.

Golzio folgt mit seinen Zeichnungen der Überlebensgeschichte von Francine R. und versucht historische Lücken zu füllen. Dennoch interpretiert er in seiner Visualisierung ihre Geschichte und erzählt seine Sichtweise. Die farbliche Darbietung der Graphic Novel ist nicht immer nachzuvollziehen. Die Darstellung R.s nach ihrer Befreiung im blauen Kleid verweist auf das Wieder-Mensch-werden nach ihrer KZ-Haft, was als farbliche Hervorhebung im Gegensatz zum sogenannten kriminellen Häftling angemessen erscheint. Trotzdem ist das Buch gerade durch die gesprochene Sprache eine interessante und empfehlenswerte Lektüre.