»Volksfrontaktivitäten«

geschrieben von Regina Girod

8. März 2022

Richtungskämpfe in der SPD: Ein Fundstück aus dem Bundesarchiv der VVN-BdA

Die VVN hat sich in der BRD in den 1970er- und 1980er-Jahren intensiv in der Friedensbewegung und in der Kampagne gegen Berufsverbote engagiert. So hatte die Initiative »Weg mit den Berufsverboten« ihren Sitz in der Bundesgeschäftsstelle der VVN, in der Frankfurter Rossertstraße. Auf den großen Friedenskundgebungen 1981 und 1983 in Bonn sprachen prominente Mitglieder der VVN-BdA wie Emil Carlebach und Etty Gingold. Während sich die Grünen damals aktiv in die Friedensbewegung einbrachten, war das Verhältnis der SPD zu den außerparlamentarischen Bewegungen widersprüchlich und umkämpft. Der Hauptgrund dafür lag im jahrzehntelang gepflegten Antikommunismus der Partei. So existierten Unvereinbarkeitsbeschlüsse der SPD zu allen Organisationen, die sich selbst als kommunistisch bezeichneten oder als »kommunistische Tarnorganisationen« galten, darunter schon seit 1948 auch zur VVN.

Noch 1976 fasste der SPD-Vorstand Abgrenzungsbeschlüsse gegenüber »Volksfrontaktivitäten«, die allerdings in der Praxis kaum umgesetzt wurden, denn Teile der Jusos, viele Gruppen und prominente SPD-Mitglieder beteiligten sich an außerparlamentarischen Aktionen und forderten offen einen Kurswechsel der Parteiführung in dieser Frage.

Im Bundesarchiv der VVN-BdA befindet sich in einer der Akten des Komplexes »Berufsverbote« ein interessantes Zeitdokument zu diesen Auseinandersetzungen in der SPD. Unter den Materialien zur Vorbereitung der »Internationalen Konferenz gegen Berufsverbote in der BRD«, die am 29. Mai 1976 durchgeführt wurde, ist ein Blatt mit einem Artikel abgeheftet, der offenbar aus einer Zeitschrift stammt. Der Bearbeiter der Akte ahnte wohl nicht, dass sein Arbeitsordner 45 Jahre später als Archivale gelten würde. Sonst hätte er sicher die Quelle und das Erscheinungsdatum des Artikels festgehalten. Zahlreiche Unterstreichungen belegen aber sein Interesse an dem Beitrag, der mit Peter Harmel gezeichnet ist.

Das Dokument ist eine einzige Denunziation gegen kritische Sozialdemokrat:innen in den 1970er Jahren

Das Dokument ist eine einzige Denunziation gegen kritische Sozialdemokrat:innen in den 1970er Jahren

Ob es sich dabei um ein Pseudonym gehandelt hat, ist heute nicht mehr festzustellen, doch möglich wäre es, denn der Artikel ist von der ersten bis zur letzten Zeile eine einzige Denunziation. Er diffamiert prominente SPD-Mitglieder und SPD-Strukturen, etwa ganze Juso-Unterbezirke, die sich öffentlich in der Kampagne »Weg mit den Berufsverboten« und in der Friedensbewegung engagierten. Als Quelle dieser »Zusammenstellung über Volksfrontaktivitäten von SPD-Mitgliedern« wird die Fritz-Erler-Gesellschaft genannt, eine Gruppierung in der SPD, die u. a. in Fragen der Ostpolitik, der Haltung zur NATO und zu außerparlamentarischen Bewegungen einen stramm rechten Kurs vertrat. Laut dem Autor hatte die Fritz-Erler-Gesellschaft ihr Dossier dem damaligen Parteivorsitzenden Willy Brandt zugesendet, um disziplinarische Maßnahmen gegen die »Volksfrontler« zu erzwingen. Der Parteivorstand hatte sich jedoch mit den Vertretern der Gesellschaft darauf verständigt, das Papier nicht zu veröffentlichen.

So passierte, was auch heute noch üblich ist in der Politik: Jemand, vermutlich aus der Fritz-Erler-Gesellschaft selbst, stach das Dossier an einen Journalisten durch, und der fabrizierte daraus einen Skandal. Das »Volksfrontverbot« der SPD war trotzdem nicht zu halten. Die damals Denunzierten haben dazu beigetragen, dass SPD-Mitglieder heute selbstverständlich an Bündnissen beteiligt sind, zu denen auch Kommunisten oder gar vom Verfassungsschutz beobachtete »Linksextremisten« gehören. Der Unvereinbarkeitsbeschluss der SPD gegenüber der VVN-BdA wurde im Oktober 2010, nach 62 Jahren, aufgehoben. Zuvor war er schon viele Jahre nicht mehr angewendet worden.

In loser Folge stellen wir hier Dokumente aus den Archiven der VVN-BdA vor. Siehe auch das Spezial zu 75 Jahren VVN ab Seite 17