Ungleich vor dem Gesetz

geschrieben von Emma Sammet

13. Mai 2022

Zur Aktualität der Klassenjustiz

Ronen Steinke schafft es erneut, ein wichtiges Thema auf die Agenda zu setzen. Mit seinem aktuellen Buch legt er den Fokus auf die sozialen Ungerechtigkeiten des deutschen Justizsystems. Mit einer Mischung aus Analyse und Anekdote, aus wissenschaftlichem Sezieren von Studien und Berichten von persönlichen Schicksalen, aus Gesprächen mit Akteur*innen und Vor-Ort-Besuchen macht Steinke aktuelle Problemlagen des Justizsystems greifbar.

Das Buch gliedert sich in acht Kapitel plus Vorwort, Reformvorschläge, Anmerkungen und Dank. Allen Kapiteln sind Grafiken vorangestellt, und sie bestehen jeweils aus drei Unterkapiteln, die sich dem Gegenstand von unterschiedlichen, einander ergänzenden Seiten nähern.

Es handelt sich um Themenkreise wie zum Beispiel die Frage nach Anwält*innen: Wie schlecht es funktioniert, sich selbst zu verteidigen, und was das vor dem Hintergrund bedeutet, dass in Deutschland, anders als in vielen anderen europäischen Ländern nicht jede*r Angeklagte eine*n Anwält*in unabhängig vom Geldbeutel bekommt.

So startet das Buch mit dem Bericht von der Verhandlung gegen die Rentnerin Irene von B. Die Verhandlung findet in einem sogenannten Schnellgericht bzw. Bereitschaftsgericht statt. Im Haus des Landes-kriminalamts der Berliner Polizei. Das Vergehen: Diebstahl einer Packung Kerzen für den Adventskalender im Wert von 4,99 Euro. Da sie nicht das erste Mal gestohlen hat, gilt die Rentnerin als unbelehrbar. Nach 20 Minuten ist der Fall für die Justiz gelöst, das Urteil besteht aus sechs Sätzen: Irene von B. erhält eine Geldstrafe in Höhe von 40 Tagessätzen à 20 Euro. Keine Erwähnung findet ihre gesteigerte Strafempfindlichkeit, dass also die Angeklagte ärmer und kränker ist als zuvor und eine Strafe sie daher (noch) härter trifft. Keine Erwähnung finden Fragen nach ihrer Schuldfähigkeit, nach einer aufgrund ihrer Behinderung doch erforderlichen Pflichtverteidigung und weitere Argumente in ihrem Sinne, die eine*r Strafverteidiger*in eingefallen wären, wäre diese denn bestellt und bezahlt gewesen.

Für Reiche gehen Prozesse ganz anders aus: Sie werden von Reichenanwält*innen vertreten, die Einstellungsquoten von 80 Prozent der Fälle erreichen. Dies steht in starkem Kontrast zur allgemeinen Freispruchquote von nur sieben Prozent. Wie das funktioniert: über Ressourcen, »Manpower«, Rechercheassistent*innen und Prestige. Einkaufbar durch Stundensätze jenseits der Gesamtsumme, die Pflichtverteidiger*innen auch für kompliziert gelagerte Fälle erhalten.

Klassenjustiz nach unten und oben

Ähnlich beschreibt Steinke im Anschluss Thematiken rund um Urteile: Er beruft sich auf Studien, die zeigen, dass je prekärer die Umstände der Angeklagten dargestellt werden, desto härter das Urteil ist. Er zeigt auf, wie diejenigen, die stehlen (müssen), um sich ihren Lebensunterhalt zu ermöglichen, wegen Gewerbsmäßigkeit automatisch eine Strafverschärfung erhalten und welche Folgen eine sogenannte negative Sozialprognose hat.

Auch widmet Steinke sich dem Thema der Geldstrafe. Er schreibt über das System der Tagessätze, die für Arme negative Schätzung von Einkommen. Es folgen Kapitel über das Gefängnis (Ersatzfreiheitsstrafe, soziale Not und Strafbefehle), Untersuchungshaft (Stichworte Fluchtgefahr, fester Wohnsitz und Obdachlosigkeit, Kaution) und Drogen (Strafen für Dealer*innen versus Konsument*innen, sogenannte Kontrolldelikte und gesellschaftliche Realität von Drogen).

Eindrücklich ist auch die Gegenüberstellung von sogenannter Wirtschaftskriminalität, also wenn Manager*innen und Unternehmen kriminell handeln, und sogenannter Elendskriminalität: Sexarbeit, um sich Drogen kaufen zu können, Hartz-IV-Betrug, Bettelei. Während in Bezug auf letztere eine Exklusion und Strafverschärfung geschieht, können Unternehmen die Geldstrafen ihrer verurteilten Manager*innen sogar als Spesen abrechnen und Bußgelder von der Steuer absetzen.

Bisher wenig beachtet

Es geht in dem Buch nicht nur um die Wirkweise und die Auswirkungen der Klassenjustiz gegenüber Armen und Marginalisierten. Sondern darum, auch die andere Seite, die massive Bevorzugung Reicher, zu zeigen und dass insofern Gesetz und Rechtsprechung ineinandergreifen. Dass Ungleichbehandlung eigentlich mit dem rechtsstaatlichen Versprechen bricht, ist Ausdruck gesellschaftlicher Normvorstellungen. Dabei ist es wichtig, wie auch Steinke betont, Klasse intersektional zu betrachten – also als eine von vielen Diskriminierungsebenen. Die Klassenfrage wurde aber von der deutschen Rechtswissenschaft zuletzt wenig beachtet und soll nach Steinke besondere Relevanz im Hinblick auf das Justizsystem haben.

Vor diesem Hintergrund überzeugt Steinke als Autor, Erzähler und Rechercheur. Es ist eine Freude, dieses Buch zu lesen. Gleichzeitig lässt eine*n die Dramatik nicht unberührt: Es ist Zeit, dass sich was ändert.

Ronen Steinke: Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich., Berlin Verlag, 272 Seiten, 20 Euro