Warum dieser Krieg?
13. Mai 2022
»Fehler« monumentalen Ausmaßes: Zum Angriff Russlands auf die Ukraine
An Begründungen für seinen gegen die Ukraine gerichteten Krieg – Verzeihung, der »militärischen Spezial-operation« – mangelt es dem Kreml nicht. Auf der einen Seite wird das Erbe des antifaschistischen Kampfes aufgeboten. Die Ukraine sei ein Nazistaat, der unbedingt und im allgemeinen Interesse »entnazifiziert« und »demilitarisiert« werden müsse. Beim anderen Begründungsset wird historisch noch weiter zurückgegangen. Es sei endlich an der Zeit, das »dreieinige russische Volk« aus »Großrussen, Weißrussen und Kleinrussen« zusammenzuführen und die widernatürliche Abwendung der »Kleinrussen« von der Rodina rückgängig zu machen. In beiden Varianten wird der Ukraine abgesprochen, überhaupt ein eigenes Subjekt sein zu können, es seien ausländische Mächte, die sich ihrer nur bedienten.
Noch einmal erleben wir hier das schillernd-zwiespältige der sowjetischen Geschichtsschreibung zu dem, was »Großer Vaterländischer Krieg« genannt wurde. War es ein internationalistisch-antifaschistischer Kampf zur Befreiung der Welt von der faschistischen Bestie oder doch eher ein national-patriotischer Akt des Russentums mit freundlicher Unterstützung der Schar unter dessen Hoheit befindlicher Hilfsvölker? Wer in den letzten Jahren russischen Militärs sowie Fernsehsendungen und insbesondere dem großen »Er« zugehört hat, weiß, dass diese Uneindeutigkeit zugunsten der letzteren Geschichtsversion entschieden ist.
Anspruch der SU entkernt
Die Sowjetunion wird nachträglich um ihres internationalistischen Anspruchs entkernt und zur bloß zeitgenössischen »Ausdrucksform« der russischen Nation umdeklariert. Putin versteht sich somit als der aktuelle Sachwalter der heiligen Entität, die Iwan der Schreckliche als Moskowiter Großfürst begründete, Zar Peter der Große in das Mächtekonzert einführte und Generalsekretär Josef Stalin auf einsame Höhe mit den USA brachte. Es ist eine Argumentation mit Stalin gegen Lenin, der überhaupt Russland verraten habe. Die heutige Kommunistische Partei Russlands widerspricht dem nicht nur nicht, sondern zeigt sich als übertrumpfende Scharfmacherin. Die russische Bevölkerung und ihre wie auch immer halbdemokratisch entstandenen Vertreter in der Duma haben sich weit überwiegend gefügig eingereiht.
Ein weiteres ideologisches Konstrukt, das als solches in der Regel gar nicht erkannt wird, muss auch noch helfen: die »Geopolitik«. Es wird so getan, als gäbe es eine Art Einmaleins der politischen Geografie, nach der der vorwärtskriechenden -NATO nun einmal irgendwann mit Gewalt begegnet werden müsse. Es scheint ganz vergessen zu sein, dass diese Denkschule als Pseudowissenschaft des imperialistischen Deutschlands des Ersten und Zweiten Weltkrieges entwickelt wurde – gipfelnd im Konzept des »Lebensraums«.
Nun sind all das im Zweifelsfall nur Worte, kommen wir zu den Fakten. Die russische Politik hat sich in den 1990er-Jahren für ein klares, aber enges ökonomisches Konzept entschieden und damit die große Breite sowjetischer Wirtschaftspolitik beendet. Es beruht im Wesentlichen darauf, Russland zur Tankstelle der Welt zu machen. Öl und Erdgas und deutlich dahinter Metalle, sprich Rohstoffe, sind die zentralen Exportgüter, in Zeiten eines Rohstoffbooms eine komfortable Geldmaschine. In einer sich dekarbonisierenden Weltwirtschaft ist dieses Modell allerdings eine Sackgasse.
Die einzigen Produkte mit hoher eigener Wertschöpfung, die Russland der Welt zu bieten hat, sind Atomreaktoren und Waffen. Zwar gibt es eine Handvoll Staaten, die in absoluten Zahlen ähnlich viele oder mehr Waffen exportieren, aber keinen für den der Waffenexport eine so herausragende Rolle im Wirtschaftskonzept spielt.
Darüber hinaus spielt das Land, so groß es auch ist, im internationalen Handel und Wandel kaum eine Rolle. Die harte Wahrheit ist, dass der Westen, insbesondere die USA, Russland nach 1991 gerade nicht als »Hauptfeind« betrachteten, sondern als besiegte Macht von gestern, die man getrost ignorieren kann. So kam aus Sicht der russischen Führung, zum imperialen Phantomschmerz auch noch die Beleidigung.
Das »normale« wirtschaftspolitische Geschäft der Erschließung von Rohstoffen, Arbeitskräften und Absatzmärkten nahm nach 1991 in Ostmitteleuropa seinen Lauf. Wirtschaftlich starke Mächte wie Deutschland und die USA waren russischen Unternehmen überlegen. Schüsse mussten dafür nicht fallen, und ukrainische Nazis brauchte man dafür erst recht nicht.
Demografischer Niedergang
Das russische Volk, um das es ja laut Putin gehen soll, geht derweil seinen Weg des demografischen Niedergangs weiter. Lag die Sowjetunion 1991 mit 293 Millionen Einwohner*innen noch deutlich vor den USA mit 248 Millionen, hat Russland heute mit 144 Millionen weniger als die Hälfte der US-amerikanischen Bevölkerung mit 331 Millionen. Die Schere geht sogar immer weiter auseinander. Die Bevölkerung der USA wächst kontinuierlich um mehr als eine Million pro Jahr, die russische wird kleiner. Das Problem des Bevölkerungsrückgangs haben zwar alle osteuropäischen Gesellschaften, aber nur Russland betrachtet dies als »Großmachtproblem«. Funktionierende Rezepte dagegen hat man nicht.
Wo »toxische Männlichkeit« zur Staatsräson gehört, liegt die Lebenserwartung von Männern bei 65 Jahren; wo alle Macht sich im Zentrum konzentriert, verfällt u. a. das Gesundheitswesen im weiten Land; wo Arbeitsimmigrant*innen nur »Gastarbeiter*innen« sein dürfen, entsteht keine Einwanderungsgesellschaft. Für all diese Probleme bietet die Ukraine die scheinbar perfekte Lösung. Was wir gerade erleben –
und das ist einer der Gründe dafür, dass man dieses Ereignis so ungläubig betrachtet –, ist ein Krieg wie aus dem 18. Jahrhundert, wie ihn Friedrich II. 1756 gegen Österreich führte. Friedrich wollte die Provinz Schlesien haben, um damit seinem Reich Untertanen, »Kornkammern« und »Erzbecken« einzuverleiben. Genau das will Putin in der Ukraine auch. 42 Millionen Untertanen (davon viele russischsprachige), das Montangebiet Donbass, die global wichtigen Schwarzerdeböden der Südukraine und – nicht ganz nebenbei – die für den Export wichtigen eisfreien Häfen erscheinen in dieser Logik vergangener Zeiten als ein stolzer Gewinn.
Putins Zeitfenster
In einem System so radikaler Zentralisierung der Macht auf eine einzige Person – stellt sich dem alten Mann Putin ganz von selbst die Frage nach dem Zeitfenster, seinem Zeitfenster. Russland habe nur zwei Freunde – seine Armee und seine Marine – wird das Zar Alexander II. zugesprochene Wort recycelt. Die russische Armee wurde ab Anfang der 2010er-Jahre einem energischen Auf- und Umrüstungsprogramm unterzogen. Bei einer Reihe von Waffensystemen (z. B. der Panzerwaffe und der Flugabwehr) zog Russland mit dem Westen technologisch nicht nur gleich, sondern vorbei. Der Einsatz in Syrien schien diesen technologischen Sprung eindrucksvoll zu bestätigen. Wie sich jetzt allerdings herausstellt, fehlt es offenbar an der Quantität in der Qualität, denn vom wundersamen Panzer T-14 hat man in diesem Krieg bspw. bislang nichts gesehen.
Gegenüber den USA glaubt man sich den Rücken freihalten zu können mit der Indienststellung zweier neuer Klassen von zweitschlagsfähigen Nuklearwaffen: interkontinentalen Hyperschallraketen und dem weltweit größten U-Boot »Belgorod«, der schlimmsten Massenvernichtungswaffe aller Zeiten. Unglaublich, dass insbesondere über diesen letzten Aspekt in den letzten drei Jahren nicht breit geredet wurde.
Wert eines Lebens
Derweil hat jeder Kommandeur einer in der Ukraine eingesetzten »Taktischen Bataillonsgruppe« seine eigene Massenvernichtungswaffe dabei: »TOS-1« Raketenartillerie mit thermobarischen (kriegsrechtlich verbotenen) Sprengköpfen, die alles töten, was eine Lunge hat. Wie bei sämtlichen russischen Armeen der Jahrhunderte zuvor ist das Leben eines russischen Soldaten wenig wert. Halb erfroren, hungrig und desorientiert wurden sie am 24. Februar in einen imperialistischen Eroberungskrieg gejagt. Die horrenden russischen Verluste sind noch lange kein Grund für die Annahme, dieser Krieg werde bald vorbei sein. So ausgerüstet und von einer arroganten Offizierskaste angeleitet, führen sie einen Krieg wie im Mittelalter: Städte werden belagert und ausgehungert; Kirchen, Schulen, Krankenhäuser, Wohngebiete in Schutt und Asche gelegt. Erst wird völlig zerstört, dann besetzt.
Tschetschenische Todesschwadronen, seit jeher Putins Männer fürs Grobe, sollen für den Rest sorgen. Die eiskalte Machtpolitik hat ihre eigenen Kriterien. Es fällt einem ein Talleyrand, dem französischen Außenminister der napoleonischen Zeit, zugeschriebenes Bonmot dazu ein: »Monsieur, das war schlimmer als ein Verbrechen. Es war ein Fehler.«
Wenn man alle Vorstellungen von Moral, Recht und Menschlichkeit beiseite lässt, steht schon heute fest, dass Putin mit seinem Angriffsbefehl einen »Fehler« monumentalen Ausmaßes begangen hat.
Der Herr eines machtvollen Geheimdienstapparates zeigte sich auf groteske Weise uninformiert. Die Autokratie, in der niemand dem Herrn mehr die Wahrheit sagen mag, hat sich selbst übertölpelt. Offensichtlich unterlag er einer schweren Fehleinschätzung der eigenen Kräfte, der Verhältnisse beim Gegner und bei dessen Verbündeten. Was ein Spaziergang werden sollte, wurde zum Blutbad.
Vom Ende her gedacht?
Wenn Krieg ein Mittel der Politik ist, muss er vom Angreifer auch von seinem Ende her gedacht werden. Wie soll der Sieg aussehen? Selbst wenn die russische Armee die ihr gesetzten militärischen Ziele erreichen sollte, sind die politischen schon jetzt verloren. Schlimmer noch: Die Ausgangsbasis ist zerstört, all das, was behauptet worden war, tritt jetzt wirklich ein. Das gegnerische, in Wirklichkeit lange dahindümpelnde, NATO-Bündnis ist wachgetreten worden wie ein böser Hund. Die Existenzgrundlage der russischsprachigen Bevölkerung im Osten des Landes ist durch russische Bomben zerstört. Sie und selbstredend auch der andere Teil der Bevölkerung der Ukraine ist für die russische Sache für immer verloren. Ein ukrainischer Reststaat wird bis in die letzte Faser hasserfüllt auf Revanche sinnen, unterstützt von machtvollen Verbündeten. Besetzte ukrainische Gebiete werden den russischen Staat verwesen lassen wie eine eiternde Wunde. Zehntausende junger Russen werden sterben, hunderttausende um ihre Zukunft betrogene junge Menschen aus dem Land flüchten. Und wie wird auf der anderen Seite der Welt der chinesische »Freund« angesichts dieses Ausbruchs von Idiotie handeln? Putin hat seinem eigenen Land das Rückgrat gebrochen. Bezahlen müssen dafür andere als er. Thomas Willms
Zwischen dem 12. und 24. Mai findet eine Online-Veranstaltungsreihe der VVN-BdA mit dem Titel »Nationalismus und Geschichtsrevisionismus. Beiträge zum Krieg in der Ukraine aus antifaschistischer und historischer Sicht« statt. Informationen zu den drei geplanten Terminen finden sich auf der Seite 2 des Länderteils und unter vvn-bda.de.