Alles Nazis, oder was?

geschrieben von Maxi Schneider

1. Juli 2022

Ein Rückblick auf unsere Veranstaltungsreihe »Nationalismus und Geschichtsrevisionismus – Beiträge zum Krieg in der Ukraine aus antifaschistischer und historischer Sicht«

»Putin-Hitler-Vergleiche«, »Vernichtungskrieg«, »Entnazifizierung«: Es ist momentan keine leichte Aufgabe, angesichts inflationär verwendeter historischer Vergleiche, den gegenseitigen Unterstellungen, »Nazi« und »Faschist« zu sein, und der medialen Abfeierei des »Freien Westens« und seiner »Werte«, die die NATO angeblich verteidigt, und der Rückkehr zu Bellizismus und Heldenverehrung den Überblick über eine aussichtslos scheinende politische Weltlage zu behalten. Um jene Fragen, die sich im Kontext dieses Krieges um den Themenkomplex »Nationalismus und Geschichtsrevisionismus« drehen, zu ordnen und – soweit möglich – zu beantworten, fanden vom 12. bis 24. Mai drei Onlineveranstaltungen statt. Unsere Reihe war im Auftrag des Bundesausschusses entstanden und sollte die kontrovers geführte Debatte um den Krieg innerhalb unserer Vereinigung versachlichen und auf eine gemeinsame Gesprächsgrundlage stellen. Ein hoher Anspruch. Jeweils 150 bis 220 Interessierte nahmen die Einladung an, hörten zu und diskutierten mit. Das Feedback war überwiegend sehr gut. Alle drei Veranstaltungen wurden von Maxi Schneider moderiert und können auf dem Youtube-Kanal der Bundesvereinigung der VVN-BdA nachgehört werden.

Grund zur Spaltung? Reaktionen der rechten Szene in Deutschland und Österreich auf den Krieg

In der ersten Veranstaltung, »Die Haltung der deutschsprachigen extremen Rechten zum Krieg«, machten unsere Referent*innen Natascha Strobl und Gerd Wiegel deutlich, dass die neofaschistischen Reaktionen auf den Krieg hierzulande sehr unterschiedlich und teilweise widersprüchlich ausgefallen sind.

Laut Strobl hat die große rassistische Einigkeit in der Anti-Asyl-Debatte der letzten Jahre die Spaltung, die innerhalb der extremen Rechten schon immer dagewesen sei, bislang verdeckt. Die Debatte um den Krieg offenbare nun aber, so auch die Einschätzung Wiegels, ein Spaltungspotenzial innerhalb der rechten Szene – und das trotz der positionsübergreifenden Faszination für den Krieg, die sich aus einer positiven Bezugnahme auf Männlichkeit, Gewalt und Kampf speise. In der Auseinandersetzung mit dem Krieg stünden sich verschiedene faschistische Weltdeutungen gegenüber. Das eine Lager identifiziere sich mit jenen, die auf ukrainischer Seite unter dem Stichwort »Rechter Sektor« gefasst werden können. Die Ukraine werde als kleine und junge Nation, die sich gegen die Bedrohung durch den Hegemon Russland durchzusetzen wisse, glorifiziert. Dieser imperialen Macht solle ein »Europa der Vaterländer« entgegengesetzt werden – ein »weißes« Europa, versteht sich. In diesem Kontext und unterfüttert von antikommunistischen Traditionen gelte die als »weiß« imaginierte Ukraine als Bollwerk gegen das »asiatische« Russland.

Gegen »Gender-Gaga« und den »verweichlichten« Westen

Das zweite Lager bewundere die Russische Föderation als starken bzw. autoritären Staat, sehe in Putin den Antipoden zum westlichen Liberalismus und mystifiziere Russland als vermeintlich traditionalistische Gesellschaft. In dieser Logik sei das heutige Russland auch für deutschsprachige extreme Rechte zu einem wichtigen Bezugspunkt im Kampf gegen Feminismus und Geschlechtervielfalt, internationale Migrationsbewegung, Pluralismus und das verschwörungsideologische und antisemitische Phantasma einer jüdisch konnotierten westlichen Globalisierung geworden.

Bislang bestätige sich das Schreckensszenario der groß angekündigten Teilnahme deutscher Neonazis an den Kampfhandlungen nicht in den dazu erhobenen Zahlen, so Wiegel. Die Partei »Der III. Weg« unterstütze zwar das Asow-Regiment, und auch in Österreich werde mobilisiert, wie Strobl berichtete, Ausreisen in größerem Umfang seien aber bislang nicht bekannt.

AfD und FPÖ zwischen »Deutschland zuerst«, Aufrüstungsträumen und Russland-Beziehungen

Während innerhalb der AfD widerstreitende Positionen tendenziell von einer »Deutschland zuerst«-Position und dem Vorantreiben der eigenen rüstungspolitischen Positionen im Windschatten des Krieges – Aufrüstung und Stärkung der Bundeswehr – übertüncht werden, stehe die FPÖ klarer an der Seite Russlands. Sowohl finanziell als auch personell gebe es enge Verbindungen. Die gebe es zwar auch zwischen russischen Regierungskreisen und der traditionell ebenfalls Putin-freundlich gesinnten AfD, doch hierzulande hätten die sogenannten Transatlantiker, für die die NATO unhintergehbarer Bezugspunkt bleibt, mehr Gewicht.

Faschisierung Russlands?

Bei der zweiten Veranstaltung, »Großrussischer Nationalismus und Geschichte als Kriegslegitimation«, richteten wir unseren Blick nach Russland. In der Diskussion wurden unter anderem die Fragen aufgegriffen: Macht es Sinn, die Russische Föderation durch die Brille der Faschismustheorie zu betrachten? Haben wir es mit einem autoritären Regime unter Putin, gar mit einer neuen Form des Faschismus zu tun? Unsere Gäste verneinten diese Fragen mehrheitlich.

Plakat zur Veranstaltungsreihe

Plakat zur Veranstaltungsreihe

Der Politologe Felix Jaitner rekapitulierte in seinem Impulsvortrag die sozioökonomischen Grundlagen des autoritären Umbaus der Russischen Föderation seit 1990 und zeigte auf, dass sowohl das repressive Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung als auch ein aggressiv vorgetragener großrussischer Nationalismus zum Ziel hätten, die brüchig gewordenen Verhältnisse im Innern zu stabilisieren. Er vertrat aber den Standpunkt, es sei zu früh für eine »Ja« oder »Nein«-Antwort. Er würde derzeit nicht von einer Faschisierung Russlands sprechen, aber sehr wohl von bedrohlichen Tendenzen. Herrschaft könne schließlich auch autoritär und gewaltvoll sein, ohne faschistisch zu sein. Allerdings gelte es weitere Verschärfungen, die im Krieg zu befürchten seien, genau zu beobachten. Deutlich wurde, dass es kein Widerspruch sein sollte, die diktatorische Herrschaft Putins zu kritisieren und dennoch die ideologische Aufladung der Politik der NATO als Kampf zwischen Autoritarismus und Demokratie zurückzuweisen.

Die Journalistin und Russland-Korrespondentin Ute Weinmann ergänzte, dass gegen die Faschismusthese das Fehlen einer eigenständig handelnden gewalttätigen Massenbewegung von unten spräche. Ein faschismustheoretischer Zugriff sei nicht hilfreich, um die Funktionsweise eines Systems zu verstehen, in dem jede Form der Eigeninitiative – auch von staatsloyalen Kräften – unerwünscht sei. Sie stellte anschaulich dar, dass die neonazistische Szene, die in den 2000er-Jahren durch die ideologische Abwicklung der Sowjetunion Auftrieb erhalten hatte und für brutalen Straßenterror und zahlreiche Morde verantwortlich war, seit 2014 zunehmend bekämpft oder aber eingebunden worden sei. Während unabhängige Neonazigruppen in Russland an Bedeutung verloren hätten, sei gleichzeitig eine Öffnung nach rechts vollzogen worden. Was früher die Themen, Inhalte und Ideologiefragmente der extremen Rechten waren, werde heute von der Regierung selbst propagiert.

Auch für Micha Brumlik ist Russland ein autoritärer, jedoch kein totalitärer Staat. Brumlik referierte an diesem Abend über den faschistischen Ideologen Alexander Dugin und seinen Einfluss auf Putin. Er sah es durchaus als gerechtfertigt an, das heutige Russland mit dem Italien Mussolinis, dem Spanien unter Franco, Portugal unter Salazar oder dem Rumänien der Zwischenkriegszeit nicht nur zu vergleichen, sondern gleichzusetzen. Die Parallelisierung Russlands mit dem Nationalsozialismus wies aber auch er deutlich zurück.

Imperiale Größe als Bezugspunkt

Neben der Bezugnahme auf das mittelalterliche Gebilde der Kiewer Rus zur Herstellung eines nationalen Mythos, aus dem Gebietsansprüche abgeleitet werden,[1] seien – so Fabian Wisotzky in seinem Input zur russischen Geschichtspolitik – auch die positiven Bezugnahmen Putins auf die UdSSR als Ausdruck imperialer Sehnsüchte zu verstehen. Fabian Wisotzky betonte, dass sich die Russische Föderation im Hinblick auf Ideologie und Kapitalverhältnis ganz grundlegend von der Sowjetunion unterscheide. Bezugspunkt sei die imperiale Stärke, die – so die Erzählung – von Lenin zerstört und von Stalin wieder aufgebaut worden sei. Bedauert werde aus dieser geschichtsrevisionistischen Perspektive heraus nicht das Ende der Sowjetunion an sich, sondern die Tatsache, dass sich mit dem Zerfall dieses Zusammenschlusses plötzlich Millionen Russen nicht mehr auf russischem Territorium befänden – eine Logik, die sich in klassischen nationalistischen Denkmustern bewegt, wie wir sie kennen und kritisieren. Die eigentliche Referenz des russischen Geschichtsrevisionismus sei nicht die Sowjetunion, sondern das Zarenreich.

Staatliche Geschichtspolitik und privates Erinnern

Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg hat in der Sowjetunion schon allein aufgrund der immensen Opferzahlen des deutschen Vernichtungskrieges eine große gesellschaftliche Bedeutung. Bis Mitte der 60er-Jahre sei Erinnern eine weit verbreitete, aber primär private Angelegenheit im Kreise der Familie gewesen. Mitte der 60er-Jahre seien das Gedenken an die Befreiung vom Faschismus zu einem öffentlichen Ereignis und der Sieg im »Großen Vaterländischen Krieg« zu einem Narrativ gemacht worden, das geeignet schien, die Gesellschaft zu vereinen. Während die Erinnerung an die kommunistische Revolution und das Ende des Zarenreiches nach 1990 zunehmend abgewickelt wurde, blieb die zweigeteilte Erinnerung an den 9. Mai konstant: staatliche und gesellschaftliche Gedenkpraxis existieren bis heute parallel und teilweise im Konflikt miteinander. So sei beispielsweise die Gedenkpraxis des »Unsterblichen Regiments« ursprünglich eine Gegenbewegung zum Staat gewesen, die aber staatlicherseits übernommen und kooptiert worden sei. Die Ukraine und andere Staaten wiederum würden aus der Erinnerung einfach ausgeschlossen. Die Russische Föderation formuliere mittlerweile einen Alleinvertretungsanspruch als Nachfolgestaat der SU und Befreier vom Faschismus, der ihr mit Blick auf die historischen Fakten nicht zusteht. Immerhin kämpften in der Roten Armee auch sechs bis sieben Millionen Ukrainer*innen. Darüber hinaus sei zu beobachten, dass das Sankt-Georgs-Bändchen als zaristisches Symbol zunehmend die rote Fahne bei Gedenkveranstaltungen verdränge. Solche besorgniserregenden Entwicklungen seien auch in Russland Anlass für kritische Stimmen, die hinterfragen, was am 9. Mai auf dem Roten Platz eigentlich gefeiert werde: Antifaschismus oder nationale Stärke?

Der Missbrauch von Antifaschismus für den Krieg

Abschließend betonten unsere Gäste, dass der staatliche Antifaschismus in Russland skurrilerweise zur Rechtfertigung eines nationalistischen imperialistischen Projekts missbraucht werde. Dabei werde der antifaschistische Kampf seines progressiven Kerns beraubt. Antifaschismus sei für den russischen Staat nicht Ziel, sondern Mittel seiner Politik und diene dem Zweck, eine Notwehrsituation herbeizureden, Stichwort »Präventivkrieg«. Faschismus – russischerseits auf die Ukraine bezogen – ist in diesem Zusammenhang keine analytische Kategorie, sondern bloße Feinbildbeschreibung.

Um der Instrumentalisierung als Kriegspropaganda etwas entgegenzusetzen, sei es zentral, Antifaschismus weiterhin und immer wieder neu mit Leben und Inhalt zu füllen und jegliche staatliche Vereinnahmung zu dekonstruieren und zurückzuweisen. Ein schönes Schlusswort einer sehr produktiven Diskussion.

Die Lage in der Ukraine

Wie stark sind die Neonazis in der Ukraine, und welche Rolle spielen sie im russischen Krieg gegen die Ukraine? Welche Bedeutung haben gegenwärtig nationalistische Mythen und der Kult um den Ultranationalisten Stepan Bandera? Diesen Fragen stellten wir uns in der dritten und letzten Veranstaltung »Ukrainischer Nationalismus, Geschichtspolitik und die Bedeutung der extremen Rechten in der Ukraine«.

Deutsche Verbrechen und ukrainische Kollaboration

Zu Beginn verschaffte uns der Historiker Johannes Spohr einen Überblick über die Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg. Die Region war, selbst im Vergleich mit der restlichen Sowjetunion, eines der größten Schlachtfelder des Zweiten Weltkriegs und Zentrum der Shoah. 1,6 Millionen Jüdinnen und Juden wurden auf ihrem heutigen Gebiet ermordet, etwa 80 Prozent von ihnen erschossen. Die deutschen Besatzer brannten Dörfer nieder und massakrierten oder deportierten die Bevölkerung. Die ukrainischen Nationalisten beteiligten sich aktiv am Massenmord. Insbesondere die von Stepan Bandera geführte faschistische OUN-B und die von ihr aufgebaute ukrainische Aufständische Armee (UPA), aber auch die ukrainische Hilfspolizei, unterstützten die Deutschen beim Judenmord und waren an der massenhaften Verschleppung von Zwangsarbeiter*innen beteiligt. Spohr machte aber auch deutlich, dass die Kollaboration alles andere als reibungsfrei verlief. Zwischen OUN-B und deutschen Nazis sorgte das Streben der ukrainischen Nationalisten nach ukrainischer Staatlichkeit von Anfang an für Konflikte, im Zuge derer Stepan Bandera als privilegierter Häftling ins KZ Sachsenhausen kam. Während die abgespaltene und von Andrij Melnyk OUN-M durchweg eng mit der deutschen Verwaltung und Polizei zusammengearbeitet habe, habe sich die OUN-B zeitweilig gegen diese Instanzen gerichtet und zwar dann, wenn besonders die ukrainische Bevölkerung von der Besatzungspolitik betroffen schien. Selbige deutsche Besatzungspolitik bildete aber auch den Rahmen dafür, dass die UPA in der Westukraine 70 000 bis 100 000 Pol*innen ermorden konnte.[2]

Für Spohr liegt nahe, dass das Handeln der Menschen in der Extremsituation, die der deutsche Vernichtungsfeldzug geschaffen hatte, nicht auf Langfristigkeit ausgelegt und vom Kampf ums Überleben geprägt gewesen sei. So sei es möglich gewesen, im Verlauf des Krieges mehrfach die Seiten zu wechseln. Auf der anderen Seite war auch das Verhältnis der deutschen Faschisten zur Kollaboration widersprüchlich. Während die einen den ukrainischen Nationalismus gegen Russland in Stellung bringen wollten, überwogen bei anderen rassistische Vorbehalte gegen die Rekrutierung der Ukrainer. Die auf antislawischen Bildern fußende Gewalt traf die Menschen im Osten ganz unterschiedslos. Nicht vergessen werden sollte im Übrigen, dass den NS-Kollaborateuren sechs bis sieben Millionen Ukrainer*innen gegenüberstanden, die in den Reihen der Roten Armee kämpften.

Verstummen geschichtspolitischer Debatten durch den Krieg

Die Slawistin und Journalistin Lara Schultz führte aus, dass bezüglich der Positionierung »Pro-Russisch«/»Pro-Ukrainisch« in den vergangenen drei Jahrzehnten in diesem mehrheitlich zweisprachigen Land, neben der Geografie (Ost–West), die Erinnerungskultur Hauptunterscheidungsmerkmal gewesen sei. Zentral sei die Frage nach dem Bezugspunkt, der gewählt wird: der Sieg über den Faschismus oder der nationale Unabhängigkeitskampf, auch gegen die Sowjetunion, inklusive des Kultes um Bandera und die OUN.

In der aktuellen Kriegssituation beobachtet der Historiker und Redakteur der ukrainischen linken Zeitschrift Commons, Stanislav Serhiienko, aber keine Vertiefung dieser Spaltung, sondern vielmehr eine Umkehr der russischen Propaganda durch die ukrainische Regierung. Habe Selensky zu Kriegsbeginn noch an die gemeinsame Erfahrung mit Belarus und Russland appelliert, vergleiche er nun angesichts der russischen Zustimmung zum Krieg und der Tatsache, dass Russland kommunistische Symbolik gegen die heutige Ukraine in Stellung bringt, den russischen Angriff zunehmend mit Nazideutschland und die Ukrainer*innen mit dessen Opfern, den Juden. Indem er die Sowjetunion kaum erwähne, gelinge es ihm, eine möglichst unkontroverse Erzählung zu etablieren, die ein Identifikationsangebot für alle Ukrainer*innen, in Ost wie West, schaffe. Die erinnerungspolitische Spaltung sei zwar nicht aufgehoben, doch Serhiienko sieht deutlich, dass solche Debatten derzeit gar nicht geführt werden können. Angesichts von Krieg, Flucht und Zerstörung gebe es keinen Raum, um über die Vergangenheit zu streiten. Vor diesem Hintergrund ist es besonders beunruhigend und gleichzeitig nicht verwunderlich, dass der faschistische Gruß »Ehre der Ukraine! – Ehre den Helden!«, der 1941 von der OUN-B eingeführt worden war, im nationalistischen Taumel des Krieges weite Verbreitung und Akzeptanz erfährt.

Nazis ja, Faschismus nein

Abschließend stellte Lara Schultz die Ereignisse rund um den Maidan dar, im Zuge dessen sich die studentischen Proteste gegen die Weigerung des damaligen Präsidenten Janukowitsch, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, aufgrund der brutalen Polizeigewalt zu einer Massenbewegung entwickelten. Damals wurde die extreme Rechte in der Ukraine groß, weil es ihr gelang, sich in den Reihen des Selbstschutzes der Demonstrant*innen zu profilieren. Für ihren Einsatz wurde sie von der neuen Regierung mit Ministerposten belohnt. Das neonazistische Asow-Regiment wiederum, das sich 2014 gegründet hatte, um in der Ostukraine zu kämpfen, wurde in die Nationalgarde eingegliedert. Warum in der aktuellen Debatte immer wieder behauptet wird, Asow sei mittlerweile weniger rechts, ist für Schultz nicht nachvollziehbar.

Allerdings machte Schultz auch deutlich, dass neonazistische Bataillone kein ukrainisches Spezifikum sind, sondern auch für Russland und andere Staaten nachgewiesen seien. Die Ukraine sei kein faschistischer Staat, die Neonazis stellten geschätzt nicht mehr als ein Prozent der ukrainischen Streitkräfte, und bei den letzten Wahlen in der Ukraine hätten die neofaschistischen Parteien bedeutungslose Ergebnisse eingefahren. Klar ist dennoch: Die Ukraine hat ein Neonaziproblem, welches durch den Krieg vermutlich nur noch größer werden wird. Als VVN-BdA sollten wir uns die Frage stellen, wie Antifaschist*innen sich über Ländergrenzen hinweg unterstützen und stärken können.

Bezogen auf die deutsche Debatte über ukrainische Nazis – historisch und heute – gab Spohr zu bedenken, dass es immer noch der Nationalsozialismus war, der die Verbrechen der ukrainischen Faschisten möglich werden ließ. Serhiienko plädierte für eine differenzierte und sachlich fundierte Betrachtung der Ukraine – in all ihrer Vielschichtigkeit. Vielfach herrsche in Deutschland ein großes Unwissen über grundlegende Zusammenhänge der ukrainischen Politik und Gesellschaft, was eine gewinnbringende Analyse verhindere. Ein tieferes Verständnis werde auch blockiert, wenn die Ukraine als Subjekt bzw. die Ukrainer*innen als handelnde Akteur*innen gar nicht mehr vorkämen, sondern nur noch als Spielball imperialer Großmächte behandelt würden.

NS-Vergleiche

In unserer Reihe tauchte immer wieder die Frage nach der Gefährlichkeit derzeit geäußerter NS-Vergleiche auf. Ohne an dieser Stelle näher darauf eingehen zu können, waren sich unsere Gäste einig, dass gerade aus der Sprecherposition im Land der Täter diesbezüglich eine besondere Verantwortung erwächst.

So betonte Fabian Wisotzky, dass man angesichts der Hitler-Putin-Vergleiche wachsam sein müsse, gebe es doch so manchen, der die deutsche Geschichte mit Verweis auf einen »neuen Hitler« entsorgen wolle. Gleichzeitig plädierte er dafür, Verständnis aufzubringen für die unterschiedlichen Motive und Perspektiven, aus denen heraus historische Vergleiche gezogen werden. Auch Natascha Strobl und Gerd Wiegel problematisierten NS-Vergleiche, die unreflektiert verwendet werden, um dem eigenen Entsetzen Ausdruck zu verleihen. Noch eindeutiger müssen wir uns gegen jenen rhetorischen Maximalismus wenden, der eingesetzt wird, um die eigene politische Agenda zu rechtfertigen und damit jeden Vergleich seines analytischen Gehalts beraubt.

Während sich sowohl Russland als auch die Ukraine der Geschichte, respektive nationaler Mythen und NS-Vergleiche bedienen, um die eigene Position in diesem Krieg zu stärken, kommt auch hierzulande kaum ein Zeitungsartikel ohne entsprechende Referenzen aus. In der politischen Debatte werden Appeasement-Vorwürfe erhoben gegen jene, die auf Diplomatie setzen, und es ist sicherlich kein Zufall, dass unbürokratische US-amerikanische Militärhilfe für die Ukraine mit einem Gesetz ermöglicht wurde, das den Namen »Ukraine Democracy Defense Lend-Lease Act of 2022« trägt und damit mit dem »Lend-Lease Act«, der die britische Armee 1941 im Kampf gegen Hitler unterstützten sollte, auf eine Stufe gestellt wird. Dieser Instrumentalisierung der Geschichte in bellizistischer Absicht müssen wir uns auch weiterhin entgegenstellen. Selbiges gilt für jegliche Versuche, die NS-Verbrechen durch Vergleiche zu relativeren. Gleichzeitig ist es natürlich Unsinn, dass sich Vergleiche – wie es so oft heißt – von selbst verböten. Die Frage ist aber, wie und mit welcher Absicht man sie nutzt. Als Mittel der Analyse sollte uns der Vergleich erhalten bleiben.

Und nun?

Es ist für sich ein Erfolg, dass wir in so kurzer Zeit Wissenschaftler*innen und Journalist*innen gewinnen konnten, die gerne bereit waren, ihre Zeit und ihre Expertise einzubringen und sich damit solidarisch an die Seite der VVN-BdA stellten. Wir haben uns sichtbar und fundiert zu Wort gemeldet und, der Blick auf die Teilnehmendenzahlen zeigt es, einen Nerv getroffen. Angesichts vieler kleiner Zoom-Kacheln und unübersichtlicher Chat-Verläufe wurde aber auch klar: Das Format »Onlineveranstaltung« hat Grenzen und kann letztlich nur Impulse geben für Diskussionen, die andernorts weitergeführt werden müssen.

Die Einbeziehung unterschiedlicher Perspektiven und Schwerpunkte in unserer Veranstaltungsreihe hat vor allem eines gezeigt: Die Lage ist komplex, vielleicht komplexer, als wir dachten. Es bleiben wie so oft, wenn Themen vielschichtig diskutiert werden, mehr Fragen als Antworten. Die Herausforderungen, die sich für uns aus dem Krieg in der Ukraine ergeben und nicht zuletzt die geschichtspolitischen Implikationen und Folgen, werden uns sicherlich weiter beschäftigen.

Alle drei Veranstaltungen wurden von Maxi Schneider moderiert und können auf dem Youtube-Kanal der Bundesvereinigung der VVN-BdA nachgehört werden.

Hinweis: Dies ist eine umfangreichere Fassung des Beitrags, als er in der Printausgabe erschienen ist

[1] Vgl. dazu beispielsweise den Essay »Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern« von Wladimir Putin, veröffentlicht am 17.7.2021, abgedruckt in: osteuropa, Jahrgang 71 / Heft 7 / 2021.

[2] Weiterführend zur Geschichte und Entwicklung der ukrainischen nationalistischen/faschistischen Bewegung (OUN, UPA) und dem Kult um Stepan Bandera empfehle ich gerne folgenden Artikel, auf den mich Ulrich Sander nach der letzten Veranstaltung hinwies: Grzegorz Rossoliński-Liebe: Stepan Bandera, der ukrainische Nationalismus und der transnationale Faschismus, in: ApuZ, 67. Jahrgang, 42–43/2017, hg. von bpb, S. 17–22. (https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/APuZ_2017-42-43_online.pdf)