Ermordete Nachbarn

geschrieben von NRW-Archiv/Ulrich Sander

1. Juli 2022

Fundstück zur Verfolgung der Düsseldorfer Sinti und Roma

Eine bemerkenswerte Fundsache fand sich in den Beständen der VVN-BdA in Nordrhein-Westfalen. Der Düsseldorfer Künstler und Antifaschist Otto Pankok (1893–1966) listete darin seine Nachbarn auf, die von den Faschisten ermordet wurden, weil sie »Zigeuner« waren. Diese Liste stellte er Ende der 1940er-Jahre der VVN zur Verfügung, damit deren Verfolgungsschicksale nicht vergessen würden.

Vertreibung und Erfassung

Otto Pankok lebte in der Weimarer Zeit in der Nähe des Platzes, der schon damals von Sinti- und Roma-Familien genutzt wurde. Anfang 1933 verkündete das Düsseldorfer Naziblatt Volksparole, dass es nun nicht mehr lange dauern werde, bis es den »Zigeunerscharen« verboten würde, in der Stadt ihr Lager aufzuschlagen. Sinti und Roma wurden von privaten Stellplätzen vertrieben. Im Juli 1937 erging dann der Befehl an alle Polizeireviere, Sinti und Roma genau zu erfassen, um sie im gerade fertiggestellten »Zigeunerlager« Höherweg zu internieren.

In loser Folge stellen wir hier Dokumente aus den Archiven der VVN-BdA vor.

In loser Folge stellen wir hier Dokumente aus den Archiven der VVN-BdA vor.

»Noch bevor die Synagogen aufloderten, waren die Zigeunerfamilien hinter den Gittern des Stacheldrahts zusammengepfercht«, kommentierte Otto Pankok, der eng mit den Familien befreundet war, diese Maßnahme. Durchschnittlich sieben Personen mussten sich im »Zigeunerlager« einen mit von außen verriegelbaren Eisentüren und vergitterten Fenstern versehenen Raum von nur 20 Quadratmetern teilen. Die Sinti und Roma, die als selbständige Handwerker, Händler oder Musiker gelebt hatten, wurden nach Beginn der NS-Herrschaft zu Zwangsarbeit herangezogen. Das »Zigeunerlager« diente nicht nur als Arbeitskräftereservoir. Durch ihre Internierung wurde auch die Erfassung der Sinti und Roma durch die 1936 gegründete »Rassenhygienische Forschungsstelle« begünstigt. Diese hatte sich zum Ziel gesetzt, die »biologische Bedingtheit von Asozialität« nachzuweisen, und dazu die »Zigeunerfrage als erstes und am ehesten lösbares Teilproblem in Angriff genommen«. Nach Kriegsbeginn 1939 beschleunigte sie ihre Arbeit, »um für die in Kürze zu erwartenden einschneidenden Maßnahmen die Unterlagen bereitstellen zu können«.

Wie diese »Maßnahmen« aussahen, erlebten die Sinti und Roma drastisch in den Morgenstunden des 16. Mai 1940. Polizeifahrzeuge fuhren auf das Lagergelände, anhand einer vorgefertigten Liste wurden 130 Insassen auf Lastwagen verladen und in das Sammellager Köln-Deutz gebracht, wo die Düsseldorfer zusammen mit Sinti und Roma aus dem übrigen Rheinland in bereitstehende Viehwaggons getrieben und in das besetzte Polen deportiert wurden, um dort in Ghettos und Lagern eingesperrt sowie zur Zwangsarbeit eingesetzt zu werden. Am 10. März 1943 wurde das »Zigeunerlager« dann erneut von Bewaffneten umstellt und der größte Teil der verbliebenen Insassen in das neu errichtete »Zigeunerfamilienlager Auschwitz-Birkenau« verschleppt. Die Bilanz: Die meisten Düsseldorfer Sinti und Roma wurden in den Vernichtungslagern ermordet.

Aber damit endete das Unrecht nicht. Den wenigen Überlebenden wurde in der Regel eine Entschädigung für die erlittene Verfolgung verweigert. Stattdessen wurden sie in Düsseldorf erneut an einer Stelle zusammengefasst: im ehemaligen »Zigeunerlager« am Höherweg. Und in diesem Zusammenhang entstand die gezeigte Liste. Pankok, selber VVN-Mitglied, wollte damit erreichen, dass die Ermordeten nicht vergessen werden konnten. Er selbst hatte gute Kontakte zu den Familien gehabt, Angehörige hatten ihm Modell gestanden für seine Zeichnungen und Plastiken – ein Grund, warum seine Werke von den Nazis als »entartete Kunst« bezeichnet wurden und er Malverbot bekam.

Überlebende des Völkermords

Am 16. Mai, anlässlich des 82. Jahrestages der Deportation von Düsseldorfer Sinti, erinnerten Oberbürgermeister Stephan Keller, der Düsseldorfer Sinti-Union e. V. und die Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf an das Lager und die dort seit 1937 internierten Sinti. Witterungsbedingt musste das Gedenken an der Figur »Ehra – Kind mit Ball« im Alten Hafen in einen Saal verlegt werden. Die 1997 aufgestellte Figur war nach Entwürfen des Künstlers Otto Pankok gefertigt worden. Oberbürgermeister Keller berichtete in seiner Ansprache erstmals ausführlich über das Leben und Überleben des Mädchens Ehra, das amtlich Ida Meinhardt hieß und von 1921 bis 1994 lebte. Ehra ist in dem abgebildeten Dokument unter den Ziffern 28–33 zu finden. Sie wurde am 16. Mai 1940 deportiert, überlebte aber den Völkermord unter dramatischen Umständen im besetzten Polen.