Jenseits der Erfolgsspur

geschrieben von Gerd Wiegel

1. Juli 2022

Die AfD in der Stagnations- und Krisenphase

Die AfD befindet sich in einer Stagnations- und Krisenphase – das ist für alle Beobachter:innen unverkennbar. Nach dem rasanten Aufstieg der Partei ab 2015 setzte bereits zwei Jahre nach dem triumphalen Bundestagseinzug 2017 mit 12,6 Prozent der Stimmen – also ab 2019 – eine erste Ernüchterung ein. Hatten sich wichtige Vertreter der Partei bis dahin auf direktem Weg zur bundesweiten Volkspartei und zur Regierungsmacht gesehen, so schwächte sich der Aufschwung seitdem ab und versiegte spätestens mit Beginn der Corona-Pandemie vollständig. Personell, thematisch und strategisch ist die AfD in einer schwierigen Situation, und mit nachlassendem Erfolg wurden und werden die Fliehkräfte in der Partei größer. Dass sie dennoch auf absehbare Zeit ein Faktor in der deutschen Politik bleibt, verdankt sie einer nach wie vor stabilen bundesweiten Stammwählerschaft.

Niederlagenserie bei Wahlen

Minus 2,3, minus 0,5, minus 1,5 und minus 1,9 – so lauten in Prozentpunkten die Verluste der AfD bei Landtagswahlen seit September 2021, als der Bundestag neu gewählt wurde. Reichte es dabei bundesweit immerhin noch für 10,3 Prozent, so blieben die Ergebnisse im Saarland mit 5,7 Prozent und in NRW mit 5,4 Prozent nur knapp über der Fünf-Prozent-Hürde, die in Schleswig-Holstein mit 4,4 Prozent gerissen wurde. Die Landtagswahlen in der ersten Jahreshälfte haben die elektorale Spaltung der Partei mehr als deutlich gemacht. In Brandenburg (19 %), Mecklenburg-Vorpommern (18 %), Sachsen (27 %), Sachsen-Anhalt (20 %) und Thüringen (23 %) liegt die AfD aktuellen Umfragen zufolge nahe bei oder deutlich über 20 Prozent, wenngleich sie auch dort, mit Ausnahme Mecklenburg-Vorpommerns, aktuell überall leichte Verluste zu verzeichnen hat. Deutlich wird jedoch, dass der stabilen Lage im Osten eine klare Schwäche im Westen gegenübersteht.

Thematische Schwächen

Foto: Demo in Riesa gegen den Parteitag der AfD im Juni 2022 (Foto: AgR)

Foto: Demo in Riesa gegen den Parteitag der AfD im Juni 2022 (Foto: AgR)

In der Partei werden daraus unterschiedliche, ja gegensätzliche Schlussfolgerungen gezogen. Während der bürgerlich-konservative Teil der AfD die Rechtsradikalisierung der Partei für den Abwärtstrend im Westen verantwortlich macht, sehen Vertreter der völkischen Rechten vor allem in dem zu wenig radikalen Kurs einzelner Westlandesverbände den Grund für den Niedergang. Personelle Querelen und ein seit Jahren anhaltender Führungsstreit überdecken dabei die Tatsache, dass die AfD thematisch wenig zu bieten und nach dem Abflauen der Themenkonjunktur zur Euro-Krise und Fluchtmigration wenig Produktives zu den beherrschenden Themen zu sagen hat. Schon in der Klimadebatte ab etwa 2019 zog sich die Partei auf die Position der »Klimaleugnung« zurück, das heißt, sie bestreitet bis heute die menschliche Verantwortung für den Klimawandel und steht somit gegen alle in diesem Zusammenhang diskutierten Maßnahmen. Ganz offensichtlich konnten mit einer solchen Positionierung aber keine neuen Wähler:innenschichten erschlossen werden und die für alle spürbaren klimatischen Veränderungen weckten auch im eigenen Lager Zweifel an dieser Positionierung. Ähnlich bei der Pandemiekrise, in der von der AfD keine konsistente Position vertreten wurde.

Schließlich bringt auch der Krieg Russlands gegen die Ukraine die Partei in schwieriges Fahrwasser. Traditionell als Anhänger von Putins Russland positioniert, musste die Partei nach Beginn des Krieges diese Position relativieren und auch in der Frage der Geflüchteten alte Gewissheiten in Frage stellen. Gerade bei diesem Thema spielt der Ost-West-Gegensatz in der Partei ein Rolle, verstehen sich doch größere Teile der West-AfD als Transatlantiker und NATO-Freunde, wogegen man im Osten sehr viel stärker die Sicht Russlands teilt, den Autoritarismus in Putins Russland schätzt und Deutschland perspektivisch vom »dekadenten Westen« abkoppeln will.

Rechtsradikalisierung

Ganz offensichtlich hat sich die inhaltliche Ausrichtung der AfD in den letzten Jahren verschoben. Von der nationalkonservativen und wirtschaftsliberalen Ausrichtung sind zwar in der parlamentarischen Alltagspraxis zahlreiche Punkte nach wie vor vorhanden, überdeckt werden sie jedoch von einer Form der Rechtsradikalisierung, mit der die Partei weitgehend ins Lager der extremen Rechten gewechselt ist. Ethnopluralistische Positionen, Formen harten Rassismus, Relativierung und Leugnung von Verbrechen der NS-Zeit, Verschwörungsideologien und Delegitimierung von Parlamentarismus und Demokratie – mit allen diesen Formen extrem rechter Ideologie hat sich die AfD seit 2015 gemein gemacht, was schließlich auch zu einer Beobachtung durch den Inlandsgeheimdienst (Verfassungsschutz) führte.

Der Autor hat vor kurzem das Buch »Brandreden: Die AfD im Bundestag« veröffentlicht. PapyRossa, Köln 2022,  220 Seiten, 16,90 Euro

Der Autor hat vor kurzem das Buch »Brandreden: Die AfD im Bundestag« veröffentlicht. PapyRossa, Köln 2022,  220 Seiten, 16,90 Euro

Auch organisatorisch scheuten diese Teile der AfD nicht davor zurück, die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren der extremen Rechte zu suchen. Schon bei Pegida ließ sich das beobachten, ähnlich bei den Protesten  extrem Rechter in Chemnitz 2018. Im Rahmen der Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen trat man zusammen mit Reichsbürgern in Erscheinung und suchte aktiv die Zusammenarbeit mit neonazistischen Gruppierungen wie den »Freien Sachsen«. Die Aktionen an der Reichstagstreppe am Rande einer Corona-Demo in Berlin 2020 und das Einschleusen von »Aktivisten« in den Bundestag wurden von der AfD legitimiert bzw. gingen von ihr aus. Sie waren im Gegensatz zu den Ereignissen am Kapitol in Washington eher lächerlich, waren aber vom gleichen Ziel der Delegitimierung demokratischer Entscheidungsprozesse getragen.

Ganz ohne Zweifel blieb diese Form der Rechtsradikalisierung der bis 2021 größten Oppositionspartei in Deutschland nicht ohne gesellschaftspolitische Wirkung. Es ist kein Zufall, dass in diese Phase der AfD-Entwicklung drei große rechtsterroristische Anschläge in der Bundesrepublik fallen (Mord an Walter Lübcke in Kassel, der antisemitisch motivierte Anschlag in Halle, die rassistischen Morde in Hanau). Hetze gegen Geflüchtete und hier lebende Muslime, die Kriminalisierung von Politikerinnen und Politikern anderer Parteien – all das fand und findet sich in der alltäglichen Kommunikation der AfD. Was als AfD-Leaks aus der internen Kommunikation der Bundestagsfraktion sensationsheischend veröffentlicht wurde, fand sich zumeist seit vier Jahren in den öffentlichen Reden der AfD im Bundestag (Vgl. Gerd Wiegel: Brandreden. Die AfD im Bundestag, Köln 2022). Dass sich radikalisierte Anhänger:innen der Szene durch die AfD ermuntert fühlen, ihre Ideologie in Handlungen umzusetzen, ist eine einzukalkulierende Möglichkeit.

Personalquerelen

Die starken inhaltlichen Differenzen der Partei spiegeln sich auf der personellen Ebene. Die Abfolge der Vorsitzenden von Bernd Lucke über Frauke Petry zu Jörg Meuthen war auch eine Abfolge der Rechtsradikalisierung. Dabei waren es vor allem der frühere Vorsitzende Meuthen zusammen mit dem heutigen Ehrenvorsitzenden der Partei, Alexander Gauland, die diese Rechtsradikalisierung befördert haben – Meuthen aus Machtopportunismus und Gauland aus Überzeugung. Erst sehr spät, ab 2019, wurde Meuthen offenbar klar, dass die völkische Rechte in der Partei einen Einfluss gewonnen hatte, der sie zum dominierenden Zentrum zu machen drohte. Seine Versuche, mit dem Ausschluss von Andreas Kalbitz und der öffentlichen Positionierung gegen die weitere Radikalisierung der Partei dem entgegenzuwirken, kamen zu spät. Auch Meuthen musste dem Druck von rechts weichen und trat schließlich am Jahresanfang 2022 von seinem Posten zurück und aus der Partei aus.

Mit Tino Chrupalla und Alice Weidel hat die Partei aktuell zwei schwache Führungsfiguren, die dem Machtwillen der völkischen Rechten wenig entgegenzusetzen haben. Aber auch die Parteirechte weiß um das Risiko, sollte sie die Partei ganz offen dominieren. Beobachtung durch den Verfassungsschutz, daraus erwachsende mögliche berufliche Nachteile, Ansehensverlust aufgrund der Nähe zur extremen Rechten – alle diese Punkte spielen für einen nicht unerheblichen Teil der Funktionsträger nach wie vor eine Rolle. Insofern trauen sich Vertreter der extremen Rechten, wie etwa Björn Höcke, seit Jahren nicht, ihren Machtanspruch in der Partei auch mittels entsprechender Führungspositionen auf Bundesebene zu untermauern. Viel besser lebt es sich für diesen Teil der Partei offensichtlich mit einer schwachen und gegenüber der Rechten willigen Führung.

Der Parteitag vom 17. bis 19. Juni im sächsischen Riesa spiegelt diese verfahrene Situation der Partei. Personell ist die AfD schwach aufgestellt, und die Konkurrenzkandidaturen zu Chrupalla kamen mit Norbert Kleinwächter und Nicolaus Fest von Funktionären aus der zweiten Reihe, die außerhalb der AfD niemand kennt. Letztlich geht es jedoch weniger um Personen als um Inhalte und Strategie. Während die völkische Rechte nach dem Ende der Aufstiegsphase der Partei kein Konzept hat, wie sie ihre Positionen in reale Politik umsetzen will, und ihre Vertreter in Teilen offenbar immer noch auf den »Tag X« und den völkischen Umsturz warten, fehlt den Bürgerlich-Konservativen Inhalt und Konzept, wie man CDU/CSU zu einer Zusammenarbeit und zu Mehrheiten rechts der politischen Mitte bewegen kann.

Auf Bundesebene hat die Rechtsradikalisierung die AfD mittelfristig isoliert. Gab es zu Beginn der 19. Wahlperiode im Bundestag zumindest bei Union und FDP noch die Vorstellung, die AfD ließe sich im Parlamentarismus zähmen und formal einbeziehen, so hat sich das mit der genannten Entwicklung der Fraktion klar verändert. Die Zahl der Stimmen aus anderen Fraktionen für AfD-Kandidat:innen bei der Besetzung der Posten der Vizepräsidentschaft des Bundestages hat kontinuierlich abgenommen. Auch stellte die Fraktion in der 19. Wahlperiode noch drei Ausschussvorsitze, während sie in der aktuellen Wahlperiode nicht in einem Ausschuss eine Mehrheit für ihre Vorschläge gewinnen konnte.

Anders sieht es dagegen in den Bundesländern aus. Hier gelingt es der AfD gerade in den völkisch dominierten Landesverbänden immer wieder, CDU und FDP an ihre Seite zu ziehen. Das liegt vor allem am deutlich konservativeren Profil der bürgerlichen Parteien im Osten und an der Stärke der AfD dort. Hier sind über kurz oder lang weitere Tabubrüche (nach der Wahl des FDP-Kandidaten zum Ministerpräsidenten in Thüringen 2020) zu erwarten. Nur wenn es gelingt, den mehrheitlich extrem rechten Charakter der AfD glaubwürdig und öffentlichkeitswirksam nachzuweisen, werden solche Annäherungen auch zukünftig mit massiven Problemen für CDU und FDP verbunden sein. Hier liegt eine wichtige Aufgabe antifaschistischer Arbeit.

Nachtrag zum AfD-Parteitag in Riesa

Im Ergebnis hat der AfD-Parteitag vom 17.–19. Juni in Riesa das nachvollzogen, was die Entwicklung der Partei in den letzten Jahren kennzeichnete: eine personelle Absicherung der Rechtsentwicklung. Mit dem in Riesa verkündeten Ende der Ära Meuthen soll die innerparteiliche Auseinandersetzung überwunden werden. Der Preis dafür ist faktisch die Machtübergabe an die völkische Rechte, die jetzt auch formal entscheidende Positionen im Parteivorstand besetzt.

Die Wahl von Tino Chrupalla und Alice Weidel an die Parteispitze hat der AfD eine Führung beschert, von der kein größerer Widerstand gegen den weiteren inhaltlichen Durchmarsch der völkischen Rechten zu erwarten ist. Die heftige Auseinandersetzung um eine Resolution zur Europapolitik, die den Parteitag zu einem vorzeitigen Ende brachte, hatte auch die Funktion, den Vorsitzenden zu zeigen, wer tatsächlich das Sagen in der Partei hat. Trotz mehrfacher Interventionen von Chrupalla und Weidel folgte die Mehrheit immer wieder dem Ansinnen der Rechten um Höcke, die in völkisch-neurechter Diktion gehaltene Resolution zu verabschieden. Nur mit Hilfe zahlreicher Landesvorsitzender und des Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland gelang es den beiden am Ende, eine Sofortabstimmung zu verhindern.

Ganz offen hat Björn Höcke seine Macht in Riesa demonstriert. Die formale Möglichkeit der alleinigen Parteiführerschaft wurde von ihm ebenso durchgesetzt wie die Aufhebung der Abgrenzung zu extrem rechten Gruppierungen wie dem »Zentrum Automobil«. Während die Vorsitzenden die Verantwortung für weitere drohende Wahlniederlagen tragen, sitzt Höcke in den Startlöchern, um die Partei zu übernehmen, wenn ihm die Situation günstig erscheint. Das könnte spätestens nach erneut erfolgreichen Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg 2024 der Fall sein.

Schon heute gibt es im Parteivorstand eine Mehrheit für die extreme Rechte. Die Rehabilitierung von Leuten wie Andreas Kalbitz, die in Riesa noch scheiterte, kann über diesen Vorstand in die Wege geleitet werden. Keine Antwort hat der Parteitag jedoch auf inhaltliche und strategische Fragen gegeben. Wie die AfD wieder in die Erfolgsspur kommen will, mit welchen Themen sie punkten will – all das war kein Thema. (gw)

Hinweis: Dies ist eine umfangreichere Fassung des Beitrags, als er in der Printausgabe erschienen ist